Mohammed Schemsed-din Hafis

(Übersetzung: Vincenz Ritter von Rosenzweig-Schwannau)


Aus: Buchstabe Je

75.

Ich liebe innig dich, o Seele,
Und weiss zugleich, dass du es weisst;

Denn Unsichtbares sieht dein Auge
Und Ungeschrieb'nes liest dein Geist.

Der Engel, der vor Adam kniete,1
Dir meinte er zu huld'gen nur,

Denn deine Schönheit fand erhaben
Er über menschliche Natur.

Im Ringe deiner Locke sammeln,
Bei Gott! sich alle Herzen heut:

Mög'st immer du gesichert bleiben
Vor jenem Winde, der zerstreut!2

Das Band des Gürtels Ihm zu lösen
Erlaubt mir hoffentlich das Glück:

Um Gotteswillen, los' die Knoten
Dir von der Stirn, du mein Geschick!3

 Zerstreu' dein Haar, und führ' den Ssofi
Zum Spiele und zum Tanz heran:

Aus jedem Lappen seiner Kutte
Streu'st du ihm tausend Götzen dann.4

Der Lockenhauch der holden Schönen
Erhellt mein Aug' wie Fackelschein:

Geschützt vor Winden des Zerstreuens,
O Herr, sei dies Gesammeltsein!

Was kann der Tadler vom Geheimniss
Des Paares, das sich liebt, versteh'n?

Kann doch das Auge eines Blinden
Verborg'ne Dinge nimmer seh'n.

Sich grämen um die Weggefährten
Steht mit Vernunft im Widerstreit:

Ertrag' des Postenlaufs Beschwerden
Und denke an die leichte Zeit!

Weh, einem Morgenlüftchen ähnlich
Schwand das bei Nacht genoss'ne Glück!

 Herz, du erkennst den Werth der Liebe
Erst in der Trennung Augenblick.

Das Wahnbild Seines Lockenreifes,
Hafis, umgarnet dich mit List:

Hör' auf am Ringe eines Glückes
Zu rütteln; das unmöglich ist.5
 

1 Nach dem Koran befahl Gott den Engeln, dem ersten Menschen knieend zu huldigen.

2 Sich sammeln heisst so viel als: Glück, Trost finden, so wie zerstreuen, unglücklich, trostlos machen.

3 D.h. O Schicksal, sieh' mich deshalb nicht mit so knotiger, gerunzelter Stirn an, zürne nicht über mein gehofftes Glück! - Bei der doppelten Bedeutung aber des Wortes Pischani, nämlich Stirn und List, kann der Sinn dieser Stelle auch heissen: O Schicksal, löse die Knoten deiner List!

4 D.h. Schüttle dein Haar, lass es frei flattern und verleite den (gleissnerischen) Ssofi dadurch zum Spiele und Tanze; dann werden ihm aus jedem Lappen seiner Kutte die tausend Götzen seiner Gleissnerei herausfallen, d.i. seine Gleissnerei wird offen am Tage liegen.

5 Ein Vergleich, von dem Thorringe hergenommen, den man rüttelt, wenn man will, dass das geschlossene Thor geöffnet werde. - Der Sinn dieser Stelle ist: Du täuschest dich, wenn du auf das Glück hoff'st, den Lockenring des Geliebten zu berühren; dies ist ein Glück, das zu erreichen unmöglich ist.

 

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