Aus: Buchstabe Te
50.
Ein Rosenblatt von schöner Farbe
Hielt einst ein Sprosser in dem Mund
Und gab, in Wonne ganz versunken,
Die lieblichsten der Klagen kund.
Ich sprach zu ihm: »Was soll die Klage?
Du lebst ja mitten im Genuss!«
Er sprach: »Der Schalksinn der Geliebten
Macht, dass ich also klagen muss.«
Wenn sich der Freund nicht zu uns setzte,
Ist's nicht zu tadeln; denn fürwahr,
Er ist ein glückbetheilter Kaiser
Und schämte sich der Bettlerschaar.
Von uns'rem zarten Fleh'n und Bitten
Ringt sich des Freundes Schönheit los:
Beglückt ist jener Mann zu nennen,
Der zarter Wesen Huld genoss.
Auf! Lasst die Seele hin uns streuen
Zu jenes hohen Malers Preis,
Der diese Wunderbilder alle
Gebannt in seines Zirkels Kreis.
Bist du des Liebespfades Jünger,
Und schilt man dich, was liegt daran?
Denn seine Kutte liess zum Pfande
Im Weinhaus auch Scheïch Ssanaan.1
Dem süssen Kalendere Frieden,
Der fest an seiner Satzung hing,
Und der den Rosenkranz gebetet
An eines Christengürtels Ring.2
Hier, unterm Köschke jener Huri
Sind beide Augen des Hafis
Mit jenen Strömen zu vergleichen,
Die fliessen unter'm Paradies.3
1 Siehe die erste
Anmerkung zum 10. Ghasel aus dem Buchstaben Elif.
[1 Nämlich Scheich Ssanan Abdurrassak aus Jemen, ein frommer Vorstand
der Derwische, der sich in ein christliches Hirtenmädchen verliebte,
ihre Schweine hütete und, als sie einst Wein von ihm verlangte, in die
Schenke ging und dort, da er kein Geld hatte, seine Kutte vesetzte. Er
ist Verfasser eines religiösen Werkes, das seinen Namen zum Titel hat.]
2 D.h.: Frieden dem süssen Kalendere Scheich Ssan'an, der seine Liebe
mit den Pflichten seines Glaubens zu vereinigen verstand. - An dem
Christengürtel (Sonnar), welcher der heiligen, zwölfknötigen Schneu (Kesti),
dem Weihsymbol der Parsen wie der Brahmanen, nachgebildet scheint,
betete nämlich Scheich Ssan'an seinen muhammedanischen Rosenkranz (Tesbih),
der, aus 99 Korallen bestehend, die 99 schönen Eigenschaften Gottes
versinnlichen soll. Der Gürtel Sonnar wurde im Jahre 235 der Hidschra
(849) vom abbassidischen Chalifen Mutewekkil eingeführt, als
Unterscheidungszeichen der Christen (und Juden) von den Muhammedanern.
3 Der Satz: Ströme die unter'm Paradiese fliessen, enthält die im
Koran so häufig, z.B. Sur. 2, 23; 3, 13 vorkommenden Worte, wenn von den
Köschken, in denen die Huris wohnen, und überhaupt von den Freuden des
Paradieses die Rede ist.
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