Mohammed Schemsed-din Hafis

(Übersetzung: Vincenz Ritter von Rosenzweig-Schwannau)


Aus: Buchstabe Te

55.

Der Liebe Bahn ist eine Bahn,
Die keine Grenze kennt,

Und wo man Seelenopfer nur
Als Rettungsmittel nennt.

Wein, drohst du, wehre dem Verstand?
Du schreckst mich nicht; bring' Wein!

In uns'res Landes Wirthschaft mengt
Sich jener Vogt1 nicht ein.

Wenn du dein Herz der Liebe weih'st,
So lebst du frei von Qual:

Ein gutes Ding bedarf nicht erst
Des Rathes und der Wahl.

Frag', Seele, nur dein eig'nes Aug',
Wer mich dem Tode weih't?

Die Schuld der Sterne ist es nicht,
Noch des Geschickes Neid.

Ein reines Aug' nur kann erschau'n
Hell wie des Neumond's Licht

Das Mondlein dort; es spiegelt sich
In jedem Auge nicht.2

Benütz' den Pfad der Trunkenheit;
Denn dieser Talisman

Ist, wie der Weg zu einem Schatz,
Nicht offen Jedermann.

Hafisens Thräne wirkt auf dich
Auf keine Weise ein:

Ich staune über jenes Herz,
Das hart ist wie ein Stein.
 

1 Der Verstand.

2 So wie es helle und klare Augen braucht, um den ersten Schein des Neumondes, der den Eintritt und Ausgang des Fastenmonats Ramasan bedingt, am Himmel wahrzunehmen; denn nur, nachdem Zeugen vor Gericht beschworen haben, dass sie ihn wirklich erblickt haben, fängt die Obligenheit der Faste an: eben so ist es nicht Jedermann gegeben, den Geliebten zu schauen, der hier mit einem Mondlein, wörtlich: mit einem Stückchen des Mondes (was ein häufiger Zärtlichkeitsausdruck ist), d.i. mit einem Neumonde, verglichen wird.

 

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