Mohammed Schemsed-din Hafis

(Übersetzung: Vincenz Ritter von Rosenzweig-Schwannau)


Aus: Buchstabe Te

58.

Der Sprosser sprach des Morgens einst
Zur neu entsprossten Rose:

»Sei nicht so spröd', denn Viele blüh'n
Gleich dir im Gartenschoosse.«

Die Rose lächelte: »Mich hat
Die Wahrheit nie betrübet;

Doch kein Verliebter spricht so hart
Mit Jener, die er liebet.«

Der Liebe Duft steigt ewig nicht
Dem Manne zu Gehirne,

Der nicht am Staub der Schenkenthür
Gerieben sich die Stirne.

Willst du aus jenem Gemmenglas
Rubinenwein geniessen,

Musst an den Dolch der Wimper du
Erst manche Perle spiessen.

 Als gestern auf der Flur Irem's1
Bei sanfter Lüfte Säuseln

Der Hyacinthe Haar begann
Der Morgenwind zu kräuseln,

Da sprach ich: »Thronsitz Dschem's! Wo ist
Dein Glas, das Welten zeiget?«

»Weh, - sprach sie - dass das wache Glück
Zum Schlummer sich geneiget!«

Nein, keine Zunge spricht es aus
Das grosse Wort der Liebe;

O Schenke, bringe Wein und sprich
Nichts mehr von diesem Triebe!

Hafisens Thräne warf Geduld
Und Einsicht in die Fluthen:

Wie anders? Bergen konnt' er nicht
Des Liebesgrames Gluthen.
 

1 Nach dem Commentator Sudi meint hier Hafis unter der Iremsflur einen Garten des Königs Schedscha, und dieser Garten, in welchem der Dichter bei einem Lustgelage diese Ghaselen gedichtet haben soll, ist es, den er weiter unten als den Thronsitz des alten Königs Dschem anredet.

 

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