Mohammed Schemsed-din Hafis

(Übersetzung: Vincenz Ritter von Rosenzweig-Schwannau)


Aus: Buchstabe Te

60.

Noch erblickte Niemand deine Züge,
Und doch hast schon tausend Buhler du;

Nur noch Knospe bist du, und schon fliegen
Liebentbrannt dir hundert Sprosser zu.

Wenn ich in dein theures Dorf gekommen,
Ist da nichts Befremdliches fürwahr,

Denn von Fremden1 lebt in diesem Lande,
Wie ich selbst, gar eine grosse Schaar.

Zwar entfernt von dir muss ich stets weilen,
(Weile Niemand je entfernt von dir!)

Doch die Hoffnung, dir mich zu vereinen,
Lebt nicht minder nahe stets bei mir.

Liebe in den Klöstern unterscheidet
Sich von Liebe in den Schenken nicht:2

Denn in jedem Orte wo er weilet
Strahlet ja des Freundes Wangenlicht.

Wo die frommen Werke einer Zelle
Ihren Glanz verbreiten fort und fort,

Schallt die Glocke von des Mönches Kloster
Und des Kreuzes Name tönet dort.3

Wo ist je ein Liebender gewesen,
Dem der Freund den Blick nicht zugewandt?

Denn für alle Leiden ist, o Meister,
Auch der Arzt, der heilende, zur Hand.

Alle Klagen, die Hafis erhoben,
Sind am Ende doch nicht ohne Grund:

Eine gar befremdliche Geschichte,
Einen selt'nen Vorfall mach' ich kund.
 

1 D.i. die verlassenen, trostlos Liebenden, dir fremden.

2 Alle drei Commentatoren Hafisens, nämlich der oft genannte Sudi so wie Schem'i und Sururi meinen, dass unser Dichter hier unter Liebe in Klöstern den Islam und unter der Liebe in Schenken die anderen Religionen verstanden haben wollte, dass es daher gleichviel sei, den Schöpfer auf die eine oder andere Art anzubeten.

3 D.h.: Wo fromme Werke geübt werden, geschieht es zum Preise Gottes, mögen es auch Christen sein, welche diese frommen Werke üben.

 

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