Aus: Buchstabe Te
72.
Jener Peri gleiche Türke,
Gestern Nacht verliess er mich:
Was an mir hat ihm missfallen,
Dass er nach Chata entwich?1
Seit ich jenes Aug' nicht schaue,
Dem das Weltall offen stand,
Hat kein Sterblicher begriffen,
Was aus meinem Auge schwand.2
Dichter stieg der Rauch nicht gestern
Aus der Kerze Herzensgluth,
Als er nun durch inn'res Feuer
Über meinem Haupte ruht.
Fern von Seiner Wange fliesset
Stets aus meines Auges Quell
Eine Sündfluth aller Übel,
Und ein Strom von Thränen hell.
Schwerer Gram der Trennung machte,
Dass ich hin zu Boden sank,
Und im Schmerze blieb ich liegen:
Fehlte doch der Heilungstrank.
»Durch Gebete bring'st du wieder
- Sprach das Herz - zur Liebe Ihn.«
Und nun bring' ich im Gebete
Meine Lebenstage hin.
Ziemt mir wohl der Pilgermantel?
Meine Kibla ist nicht dort.
Wesshalb müh' ich mich? die Freude
Eilte aus dem Dorfe fort.3
Als der Arzt mich gestern schaute,
Sprach er in des Mitleid's Ton:
»Weh! dein Übel überschreitet
Das Gesetz der Heilung schon.«4
Eile, Freund, um nachzuforschen
Dem Befinden des Hafis,
Eh' man dir die Nachricht bringet,
Dass er diese Welt verliess.
1 Wörtlich: Welchen
Fehler sah er (an mir), nämlich was beging ich, weswegen er den Weg
nach Chata einschlug, d.i. in sein Vaterland heimkehrte (da Chata wie
Choten der Schönheit seiner Einwohner wegen berühmt ist)? Nimmt man das
zweimal vorkommende Wort Chata jedesmal in der Bedeutung von Fehler,
so heisst diese Stelle: Welchen Fehler sah er (an mir), dass er einen
fehlerhaften (irrigen) Weg einschlug, nämlich mich unrechter Weise
verliess?
2 Doppelsinn: Welchen Verlust ich an dem Auge des Geliebten machte,
oder: Wie viele Thränen ich schon darüber vergoss.
3 Hafis bringt hier, wo von Pilgermantel und Kibla die Rede ist, sehr
passend die Worte: Merwa, Dorf, und Ssafa, Freunde, an, da
Beide zugleich auch die Namen zweier heiligen Berge sind, zu denen die
Pilger wallfahrten.
4 Gesetz, Kanun, und Heilung, Schifa, sind die Namen
zweier berühmten medicinischen Werke von Ibn Sina (Avicenna) und von
Hadschi Pascha, auf die der Dichter hier, wo von Arzt und Krankheit die
Rede ist, anspielt.
|