Mohammed Schemsed-din Hafis

(Übersetzung: Vincenz Ritter von Rosenzweig-Schwannau)


Aus: Buchstabe Te

77.

Schon lang ist's, dass der Sehnsucht Brand
Die Seele mir verzehrt

Durch Wünsche, die mein ödes Herz
Zu jeder Stunde nährt.

Der Mann in meinem Auge ist
Getaucht in Herzensblut,

Weil Seiner Wange Sonnenquell
In meinem Busen ruht.1

Ein Lebenswasser ist das Nass
Aus jenem Zuckermund,

Ein Abglanz jenes hellen Mond's
Der Sonnenscheibe Rund.

Seit ich den Vers vernahm: »Ich blies
Von meinem Geist ihm ein
«,2

Erkannte ich, Sein sei ich ganz
Und Er, Er sei ganz mein.

 Geheimnisse der Liebe fasst
Nicht jedes Herz; fürwahr,

Die sinnigen und hohen sind
Nur meiner Seele klar.

Schweig', Prediger, und deute mir
Den Glauben länger nicht:

Mein Glaub' in beiden Welten ist,
Nur was mein Liebling spricht.

Erkenne bis zum letzten Tag'
Es dankbar an, Hafis,

Dass Freund und Gast vom ersten an
Dir jener Götze hiess.3
 

1 D.h.: Ich weine immer blutrothe Thränen, weil ich stets an des Geliebten blühendrothe Wange denke.

2 Worte des Koran's Sur. 15, V. 29, wo Gott der Herr sagt, er habe dem Adam seine Geist eingeblasen.

3 Unter dem ersten Tage ist hier der Urbeginn, die Schöpfung verstanden, als an welchem jedem Geschöpfe seine künftige Bestimmung zuerkannt wurde. - Der Sinn dieser Stelle ist: Erkenne es dankbar bis zum letzten Tage (deines Lebens) an, dass jener Götze (der Geliebte) dir vom ersten aller Tage an zum Freunde und Gaste bestimmt wurde.

 

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