Das Hohe Lied Salomos

In der Einheitsübersetzung (1980)

 


Wassily Kandinsky (1866-1944)
Improvisation 209


 

Das Hohelied


1 Das Hohelied Salomos.
2 Mit Küssen seines Mundes bedecke er mich. /
Süßer als Wein ist deine Liebe.
3 Köstlich ist der Duft deiner Salben, /
dein Name hingegossenes Salböl; /
darum lieben dich die Mädchen.
4 Zieh mich her hinter dir! Laß uns eilen! /
Der König führt mich in seine Gemächer.
Jauchzen laßt uns, deiner uns freuen, /
deine Liebe höher rühmen als Wein. /
Dich liebt man zu Recht.

5 Braun bin ich, doch schön, /
ihr Töchter Jerusalems,
wie die Zelte von Kedar, /
wie Salomos Decken.
6 Schaut mich nicht so an, /
weil ich gebräunt bin. /
Die Sonne hat mich verbrannt.
Meiner Mutter Söhne waren mir böse, /
ließen mich Weinberge hüten; /
den eigenen Weinberg konnte ich nicht hüten.

7 Du, den meine Seele liebt, / sag mir:
Wo weidest du die Herde? /
Wo lagerst du am Mittag?
Wozu soll ich erst umherirren /
bei den Herden deiner Gefährten?
8 Wenn du das nicht weißt, / du schönste der Frauen,
dann folge den Spuren der Schafe, /
dann weide deine Zicklein /
dort, wo die Hirten lagern.

9 Mit der Stute an Pharaos Wagen /
vergleiche ich dich, meine Freundin.
10 Schön sind deine Wangen zwischen den Kettchen, /
dein Hals in der Perlenschnur.
11 Machen wir dir noch goldene Kettchen, /
kleine Silberkugeln daran.
12 Solange der König an der Tafel liegt, /
gibt meine Narde ihren Duft.
13 Mein Geliebter ruht wie ein Beutel
mit Myrrhe an meiner Brust.
14 Eine Hennablüte ist mein Geliebter mir /
aus den Weinbergen von En-Gedi.

15 Schön bist du, meine Freundin, / ja, du bist schön. /
Zwei Tauben sind deine Augen.
16 Schön bist du, mein Geliebter, /
verlockend. / Frisches Grün ist unser Lager,
17 Zedern sind die Balken unseres Hauses, /
Zypressen die Wände.

2 Ich bin eine Blume auf den Wiesen des Scharon, /
eine Lilie der Täler.
2 Eine Lilie unter Disteln /
ist meine Freundin unter den Mädchen.
3 Ein Apfelbaum unter Waldbäumen /
ist mein Geliebter unter den Burschen.
In seinem Schatten begehre ich zu sitzen. /
Wie süß schmeckt seine Frucht meinem Gaumen!

4 In das Weinhaus hat er mich geführt.
Sein Zeichen über mir heißt Liebe.
5 Stärkt mich mit Traubenkuchen, /
erquickt mich mit Äpfeln; / denn ich bin krank vor Liebe.
6 Seine Linke liegt unter meinem Kopf, /
seine Rechte umfängt mich.
7 Bei den Gazellen und Hirschen auf der Flur /
beschwöre ich euch, Jerusalems Töchter:
Stört die Liebe nicht auf, /
weckt sie nicht, / bis es es ihr selbst gefällt.

8 Horch! Mein Geliebter! / Sieh da, er kommt.
Er springt über die Berge, hüpft über die Hügel.
9 Der Gazelle gleicht mein Geliebter, / dem jungen Hirsch.
Ja, draußen steht er / an der Wand unsres Hauses;
er blickt durch die Fenster, / späht durch die Gitter.
10 Der Geliebte spricht zu mir: / Steh auf, meine Freundin, /
so komm doch!
11 Denn vorbei ist der Winter, / verrauscht der Regen.
12 Auf der Flur erscheinen die Blumen; / die Zeit zum Singen ist da.
Die Stimme der Turteltaube / ist zu hören in unserem Land.
13 Am Feigenbaum reifen die ersten Früchte; /
die blühenden Reben duften.
Steh auf, meine Freundin, / meine Schöne, so komm doch!
14 Meine Taube im Felsennest, / versteckt an der Steilwand
dein Gesicht laß mich sehen, / deine Stimme hören!
Denn süß ist deine Stimme, / lieblich dein Gesicht.

15 Fangt uns die Füchse! / die kleinen Füchse!
Sie verwüsten die Weinberge, / unsre blühenden Reben.

16 Der Geliebte ist mein, / und ich bin sein; / er weidet in den Lilien.
17 Wenn der Tag verweht / und die Schatten wachsen,
komm du, mein Geliebter, / der Gazelle gleich,
dem jungen Hirsch / auf den Balsambergen.

3 Des Nachts auf meinem Lager suchte ich ihn, /
den meine Seele liebt. /
Ich suchte ihn und fand ihn nicht.
2 Aufstehen will ich, die Stadt durchstreifen, /
die Gassen und Plätze, /
ihn suchen, den meine Seele liebt.
Ich suchte ihn und fand ihn nicht.
3 Mich fanden die Wächter / bei ihrer Runde durch die Stadt.
Habt ihr ihn gesehen, / den meine Seele liebt?
4 Kaum war ich an ihnen vorüber, /
fand ich ihn, den meine Seele liebt.
Ich packte ihn, ließ ihn nicht mehr los, /
bis ich ihn ins Haus meiner Mutter brachte, /
in die Kammer derer, die mich geboren hat.
5 Bei den Gazellen und Hirschen der Flur/
beschwöre ich ich euch, Jerusalems Töchter:
Stört die Liebe nicht auf, / weckt sie nicht, /
bis es ihr selbst gefällt.

6 Wer ist sie, / die da aus der Steppe heraufsteigt /
in Säulen von Rauch.
umwölkt von Myrrhe und Weihrauch, /
von allen Wohlgerüchen der Händler?
7 Sieh da, das ist Salomos Sänfte;
sechzig Helden geleiten sie, / Israels Helden,
8 alle vertraut mit dem Schwert, / geschult für den Kampf;
jeder trägt sein Schwert an der Hüfte /
gegen die Schrecken der Nacht.
9 Einen Tragsessel ließ König Salomo zimmern /
aus Holz vom Libanon,
10 die Pfosten in Silber, / die Lehne in Gold,
der Sitz in Purpur, / das Innere mit Steinen belegt.
11 Ihr Töchter Jerusalems, kommt heraus /
und schaut, ihr Töchter Zions, / König Salomo mit der Krone!
Damit hat ihn seine Mutter gekrönt /
am Tage seiner Hochzeit, / an dem Tag seiner Herzensfreude.

4 Schön bist du, meine Freundin, / ja, du bist schön.
Hinter dem Schleier / deine Augen wie Tauben.
Dein Haar gleicht einer Herde von Ziegen, /
die herabzieht von Gileads Bergen.
2 Deine Zähne sind wie eine Herde / frisch geschorener Schafe, /
die aus der Schwemme steigen.
Jeder Zahn hat sein Gegenstück, keinem fehlt es.
3 Rote Bänder sind deine Lippen; lieblich ist dein Mund.
Dem Riß eines Granatapfels gleicht deine Schläfe / hinter dem Schleier.
4 Wie der Turm Davids ist dein Hals, /
in Schichten von Steinen erbaut;
tausend Schilde hängen daran, / lauter Waffen von Helden.
5 Deine Brüste sind wie zwei Kitzlein, /
wie die Zwillinge einer Gazelle, / die in den Lilien weiden.
6 Wenn der Tag verweht und die Schatten wachsen /
will ich zum Myrrhenberg gehen, / zum Weihrauchhügel.
7 Alles an dir ist schön, meine Freundin; / kein Makel haftet dir an.

8 Komm doch mit mir, meine Braut, vom Libanon, /
weg vom Libanon komm du mit mir!
Weg vom Gipfel des Amana, /
von den Höhen des Senir und Hermon;
weg von den Lagern der Löwen, / den Bergen der Panther.

9 Verzaubert hast du mich, / meine Schwester Braut; / ja verzaubert
mit einem (Blick) deiner Augen, / mit einer Perle deiner Halskette.
10 Wie schön ist deine Liebe, / meine Schwester Braut;
wieviel süßer ist deine Liebe als Wein, /
der Duft deiner Salben köstlicher / als alle Balsamdüfte.
11 Von deinen Lippen, Braut, tropft Honig; /
Milch und Honig ist unter deiner Zunge.
Der Duft deiner Kleider ist wie des Libanon Duft.

12 Ein verschlossener Garten ist meine Schwester Braut, /
ein verschlossener Garten, / ein versiegelter Quell.

13 Ein Lustgarten sproßt aus dir, / Granatbäume mit köstlichen Früchten, / Hennadolden, Nardenblüten,
14 Narde, Krokus, Gewürzrohr und Zimt, / alle Weihrauchbäume,
Myrrhe und Aloe, / allerbester Balsam:
15 Die Quelle des Gartens bist du, /
ein Brunnen lebendigen Wassers, /
Wasser vom Libanon.

16 Nordwind, erwache! Südwind, herbei! /
Durchweht meinen Garten, / laßt strömen die Balsamdüfte!
Mein Geliebter komme in seinen Garten /
und esse von den köstlichen Früchten.

5 Ich komme in meinen Garten, Schwester Braut; /
ich pflücke meine Myrrhe, den Balsam;
esse meine Wabe samt dem Honig,
trinke meinen Wein und die Milch.
Freunde, eßt und trinkt, / berauscht euch an der Liebe!

2 Ich schlief, doch mein Herz war wach. /
Horch, mein Geliebter klopft:
Mach auf, meine Schwester und Freundin, /
meine Taube, du Makellose!
Mein Kopf ist voll Tau / aus meinen Locken tropft die Nacht.
3 Ich habe mein Kleid schon abgelegt - /
wie soll ich es wieder anziehen?
Die Füße habe ich gewaschen - / soll ich sie wieder beschmutzen?
4 Mein Geliebter streckte die Hand durch die Luke; /
da bebte mein Herz ihm entgegen.
5 Ich stand auf, dem Geliebten zu öffnen.
Da tropften meine Hände von Myrrhe / am Griff des Riegels.
6 Ich öffnete meinem Geliebten: /
Doch der Geliebte war weg, verschwunden. /
Mir stockte der Atem: er war weg.
Ich suchte ihn, ich fand ihn nicht. /
Ich rief ihn, er antwortete nicht.
7 Da fanden mich die Wächter / bei ihrer Runde durch die Stadt; /
sie schlugen, sie verletzten mich.
Den Mantel entrissen sie mir, / die Wächter der Mauern.
8 Ich beschwöre euch, Jerusalems Töchter: /
Wenn ihr meinen Geliebten findet, sagt ihm, /
ich bin krank vor Liebe.

9 Was hat dein Geliebter den andern voraus, / du schönste der Frauen?
Was hat dein Geliebter den andern voraus, / daß du so uns beschwörst?

10 Mein Geliebter ist weiß und rot, / ist ausgezeichnet vor Tausenden.
11 Sein Haupt ist reines Gold. / Seine Locken sind Rispen, / rabenschwarz.
12 Seine Augen sind wie Tauben/ an Wasserbächen;
(Die Zähne), in Milch gebadet, / sitzen fest.
13 Seine Wangen sind wie Balsamtbeete, / darin Gewürzkräuter sprießen,
seine Lippen wie Lilien; / sie tropfen von flüssiger Myrrhe.
14 Seine Finger sind wie Stäbe aus Gold, /
mit Steinen aus Tarschisch besetzt.
Sein Leib ist wie eine Platte aus Elfenbein, / mit Saphiren bedeckt.
15 Seine Schenkel sind Marmorsäulen, auf Sockeln von Feingold.
Seine Gestalt ist wie der Libanon, / erlesen wie Zedern.
16 Sein Mund ist voll Süße; / alles ist Wonne an ihm.
Das ist mein Geliebter, / ja, das ist mein Freund, / ihr Töchter Jerusalems.

6 Wohin ist dein Geliebter gegangen, / du schönste der Frauen?
Wohin wandte sich dein Geliebter? / Wir wollen ihn suchen mit dir.

2 In seinen Garten ging mein Geliebter / zu den Balsambeeten,
um in den Gartengründen zu weiden, / um Lilien zu pflücken.

3 Meinem Geliebten gehöre ich, /
mir gehört der Geliebte, / der in den Lilien weidet.

4 Schön wie Tirza bist du, meine Freundin, /
lieblich wie Jerusalem, / prächtig wie Himmelsbilder.
5 Wende deine Augen von mir, / denn sie verwirren mich.
Dein Haar gleicht einer Herde von Ziegen, / die von Gilead herabziehen.
6 Deine Zähne sind wie eine Herde von Mutterschafen, /
die aus der Schwemme steigen.
Jeder Zahn hat sein Gegenstück, /
keinem fehlt es.
7 Dem Riß eines Granatapfels gleicht deine Schläfe /
hinter deinem Schleier.

8 Sechzig Königinnen (hat Salomo), /
achtzig Nebenfrauen / und Mädchen ohne Zahl.
9 Doch einzig ist meine Taube, die Makellose, /
die Einzige ihrer Mutter, / die Erwählte ihrer Gebärerin.
Erblicken sie die Mädchen, / sie preisen sie; /
Königinnen und Nebenfrauen rühmen sie.

10 Wer ist, die da erscheint wie das Morgenrot, /
wie der Mond so schön,
strahlend rein wie die Sonne, / prächtig wie Himmelsbilder?
11 In den Nußgarten stieg ich hinab, /
um nach dem Sprossen der Palme zu sehen,
um zu sehen, ob der Weinstock treibt, / die Granatbäume blühen.
12 Da entführte mich meine Seele, / ich weiß nicht wie, /
zu den Wagen meines edlen Volkes.

7 Wende dich, wende dich, Schulammit! /
Wende dich, wende dich, / damit wir dich betrachten.

Was wollt ihr an Schulammit, sehen? / Den Lager-Tanz!
2 Wie schön sind deine Schritte in den Sandalen, / du Edelgeborene.
Deiner Hüften Rund ist wie Geschmeide, /
gefertigt von Künstlerhand.
3 Dein Schoß ist ein rundes Becken, \ Würzwein mangle ihm nicht.
Dein Leib ist ein Weizenhügel, / mit Lilien umstellt.
4 Deine Brüste sind wie zwei Kitzlein, /
Wie die Zwillinge einer Gazelle.
5 Dein Hals ist ein Turm aus Elfenbein. /
Deine Augen sind wie die Teiche zu Heschbon /
beim Tor von Bat-Rabbim.
Deine Nase ist wie der Libanonturm, der gegen Damaskus schaut.
6 Dein Haupt gleicht oben dem Karmel; /
wie Purpur sind deine Haare; /
ein König liegt in den Ringeln gefangen.
7 Wie schön bist du und wie reizend, du Liebe voller Wonnen!
8 Wie eine Palme ist dein Wuchs; / deine Brüste sind wie Trauben.
9 Ich sage: Ersteigen will ich die Palme; / ich greife nach den Rispen.
Trauben am Weinstock seien mir deine Brüste, /
Apfelduft sei der Duft deines Atems,
10 dein Mund köstlicher Wein, / der glatt in mich eingeht, /
der Lippen und Zähne mir netzt.

11 Ich gehöre meinem Geliebten, / und ihn verlangt nach mir.
12 Komm, mein Geliebter, wandern wir auf das Land, /
schlafen wir in den Dörfern.
13 Früh wollen wir dann zu den Weinbergen gehen /
und sehen, ob der Weinstock schon treibt,
ob die Rebenblüte sich öffnet, /
ob die Granatbäume blühen. /
Dort schenke ich dir meine Liebe.
14 Die Liebesäpfel duften; /
an unsrer Tür warten alle köstlichen Früchte,
frische und solche vom Vorjahr; /
für dich hab' ich sie aufgehoben, Geliebter.

8 Ach, wärst du doch mein Bruder, /
genährt an der Brust meiner Mutter.
Träfe ich dich dann draußen, /
ich würde dich küssen; / niemand dürfte mich deshalb verachten.
2 Führen wollte ich dich, / in das Haus meiner Mutter dich bringen, /
die mich erzogen hat.
Würzwein gäbe ich dir zu trinken, Granatapfelmost.

3 Seine Linke liegt unter meinem Kopf, /
seine Rechte umfängt mich.
4 Ich beschwöre euch, Jerusalems Töchter: /
Was stört ihr die Liebe auf, /
warum weckt ihr sie, / ehe ihr selbst es gefällt?

5 Wer ist sie, / die aus der Steppe heraufsteigt, /
auf ihren Geliebten gestützt?
Unter dem Apfelbaum hab' ich dich geweckt, /
dort, wo deine Mutter dich empfing, /
wo deine Gebärerin in Wehen lag.
6 Leg mich wie ein Siegel auf dein Herz, /
wie ein Siegel an deinen Arm!
Stark wie der Tod ist die Liebe, /
die Leidenschaft ist hart wie die Unterwelt.
Ihre Gluten sind Feuergluten, / gewaltige Flammen.
7 Auch mächtige Wasser / können die Liebe nicht löschen; /
auch Ströme schwemmen sie nicht weg.
Böte einer für die Liebe / den ganzen Reichtum seines Hauses, /
nur verachten würde man ihn.

8 Wir haben eine kleine Schwester, / noch ohne Brüste.
Was tun wir mit unsrer Schwester, wenn jemand um sie wirbt?

9 Ist sie eine Mauer, / bauen wir silberne Zinnen auf ihr.
Ist sie eine Tür, / versperren wir sie mit einem Zedernbrett.

10 Ich bin eine Mauer, / meine Brüste gleichen Türmen.
Da hab' ich in seinen Augen / Gefallen gefunden.

11 Salomo besaß einen Weinberg/ in Baal-Hamon; /
den Weinberg übergab er Hütern.
Für seine Frucht würde jeder / tausend Silberstücke bezahlen.
12 Mein eigener Weinberg liegt vor mir:
Die tausend lass' ich dir, Salomo, / und zweihundert noch denen, /
die seine Früchte hüten.
13 Die du in den Gärten weilst, /
auf deine Stimme lauschen die Freunde; / laß sie mich hören!
14 Fort, fort, mein Geliebter, / der Gazelle gleich,
dem jungen Hirsch / auf den Balsambergen.

Aus: Die Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung. Katholische Bibelanstalt GmbH Stuttgart, 1980

 

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