Das Lied der Lieder
I.
Der Brautzug
3, 6. Wer kommt da herauf aus der Flur
mit Säulen von Rauch (an der Spitze)
Umduftet von Myrrhen und Weihrauch,
von allerlei Wohlgerüchen?
7. Sieh da des Königs Sänfte
geleitet von sechzig Recken,
8. Ein jeder das Schwert an der Seite
(zum Schutz) gegen Schrecken der Nacht.
9. Den Palankin ließ der König sich fertigen
Palankin: Sänfte der Braut
aus Libanons (edlen) Hölzern,
10. Den Sitz mit Ebenholz eingelegt,
ausgeschlagen mit rotem Purpur.
11. Kommt heraus und seht den König
von der Mutter geschmückt mit der Krone
Am Tage der Hochzeitsfeier,
am Tag seiner Herzensfreude.
II.
Schwerttanz der Braut mit Schilderung ihrer Reize
6, 9. Wer schaut da hernieder wie Morgenrot,
prächtig wie Scharen mit Bannern,
Wie der Mond in leuchtender Schöne,
hell wie die (Scheibe der) Sonne?
12. Sulamiterin, tanze, tanze!
tanz, tanz, auf daß wir dich schauen.
Wollt die Schöne denn ihr nicht schauen,
wie sie tanzt den krieg'rischen (Schwert)tanz?
7, 1. Wie anmutig sind deine Schritte
in (Tanz)schuhn, du Edelfräulein!
Deine Hüften geschmeidig wie Halsketten
von der Hand eines Meisters gefertigt.
7. Dein Wuchs so schlank wie die Palme,
deine Brüste wie Datteltrauben.
5. Dein Haupt auf dir wie der Karmel
umwallt von dunklen Locken.
4. Wie der Elfenbeinturm ist dein Hals,
dein Auge wie die Hesbonteiche,
Deine Nase wie der Libanonvorsprung,
der hinüber blickt nach Damaskus.
9. Dein Mund ist wie köstlicher Wein,
nach dem Lippen noch im Schlafe schmachten.
6. Wie schön bist du, und wie süß,
Geliebte, wonniges Mädchen!
2. Dein Leib ist ein Weizenhaufen
umsäumt von dunklen Lilien;
Dein Schoß ein verschlossenes Becken,
dem der Mischtrank nimmer fehle!
III.
Die Brüder der Braut
6, 2. Ich bin sein, und er ist mein,
7, 10. und nach mir steht sein Verlangen.
2, 1. Eine Herbstzeitlose des Blachfelds,
eine Lilie in den Tälern bin ich.
1, 5. Schwarzbraun bin ich, doch lieblich,
ihr Mädchen Jerusalems,
[Schwarz] wie Kedars Gezelte,
[schön] wie die Teppiche Salomos.
6. Achtet nicht meiner dunklen Farbe,
die Sonne hat mich verbrannt;
Meiner Mutter Söhne mir zürnten,
hießen mich die Weinberge hüten.
8, 8. Ein Schwesterlein ist bei uns,
die hat noch keinen Busen;
Was sollen wir tun mit der Schwester,
wenn die Zeit kommt sie zu freien?
9. Wenn sie bleibt wie eine Mauer,
soll Silberbekrönung sie haben;
Doch wenn sie eine offene Tür,
verrammeln wir sie mit Zedern.
10. Nun bin ich eine Mauer gewesen,
ob mein Busen auch jetzt wie ein Turm ist,
Ihren Augen aber erschein' ich,
als wollt' ich (die Burg) übergeben.
1. Ach daß du wärst mein Bruder,
genährt an der Brust meiner Mutter,
auf daß, wenn ich draußen dich träfe,
ich dich küssen könnt' ohne Scheu!
2. Zu Mutters Haus würd' ich dich führen,
[in die Kammer von ihr, die mich gebar,]
8. Würd' dich laben mit würzigem Wein,
und dem Safte meiner Granaten.
IV.
Außer dir verlange ich nichts weiter in der Welt
8, 11. Zu Baal-Hammon ist ein Weinberg,
von Weinberghütern gehütet;
Für die Ernte könnte jedermann kriegen
ein Tausend [Sekel] Silbers.
12. Meinen Weinberg laß' ich dir, Salomo,
und zweihundert davon - den Hütern!
6, 7. Der Königinnen sind sechzig,
und achtzig der Kebse Zahl.
8. Doch Eine nur ist meine Taube,
und Eine nur mein Engel;
[So rein] von Kindesbeinen,
unbefleckt von frühster Jugend;
Die Mädchen sie sehen und rühmen,
Königinnen und Kebse sie preisen.
V.
Ich will dich schützen vor allen Gefahren
4, 8. Mit mir kannst du, Braut, vom Libanon,
mit mir vom Libanon kommen,
Absteigen vom Amana-Gipfel,
von den Gipfeln des Senir und des Hermon.
Von den Höhlen der (grimmen) Löwen,
von den Bergen der (wilden) Panther;
VI.
Schönheit des Geliebten
5, 2. [Zur Nachtzeit auf meinem Lager,
ich nach meinem Geliebten mich sehnte;]
Ich schlief, doch mein Sinn war wach:
Horch! Horch! Da klopft mein Geliebter!
"Meine Schwester! Öffne mir! (ruft er)
meine Freundin, meine Taube, mein Engel!
Mein Haupt ist voll von Tau,
meine Locken voll Tropfen der Nacht."
3. "Ich hab schon mein Hemd abgelegt,
wie kann ich es jetzt wieder anziehn?
Meine Füße hab' ich gewaschen,
wie kann ich sie wieder beschmutzen?"
4. Mein Geliebter steckte den Arm
durch's (Schlüssel)loch [vorn in der Haustür];
{Fast zersprang mir das Herz als er sprach,}
Mein Inn'res geriet in Aufruhr.
5. Als ich aufstand zu öffnen die Tür,
(die Hand) an den Griffen des Riegels,
Da troffen meine Hände von Myrrhe,
meine Finger von (köstlicher) Stakte.
│Stakte: überlaufende
Myrrhe
6. Doch als ich dem Liebsten geöffnet,
da war er weg und verschwunden.
Ich sucht' ihn ohn' ihn zu finden;
ich rief ihn, doch kam keine Antwort.
8. "O Mädchen, laßt euch erbitten,
wenn ihr meinen Liebsten findet:
Wollt' ihr dann ihm sagen,
daß krank ich bin vor Liebe." -
17. "Wohin ist dein Liebster gegangen,
du Schönste aller Frauen?
Wohin hat gewandt sich dein Liebster,
daß wir dir suchen helfen?
9. Was zeichnet aus deinen Liebsten,
du Schönste aller Frauen,
Was zeichnet aus deinen Liebsten,
daß du uns so bestürmest?"
10. "Mein Liebster ist weiß und rot,
unter Tausenden leicht zu erkennen.
11. Sein Haupt ist Gold und Feingold,
das Haupthaar rabenschwarz.
12. Seine Augen sind (blaugrau) wie Tauben,
die am Rande eines Weihers sitzen,
Sich baden in weißer Milch,
[umsäumt von dunklen Lilien.]
13. Sein Bart ist wie duftende Beete
mit allerlei Wohlgerüchen;
Sein Schnurrbart wie dunkle Lilien,
voll von der (köstlichsten) Stakte.
14. Seine Arme sind güldene Rollen
besetzt mit (Rubinen von) Tharsis
Sein Leib eine Elfenbeinplatte
eingelegt mit (blauem) Saphir;
15. Seine Schenkel weiße Säulen von Marmor
auf güldenen Sockeln stehend.
Wie der Libanon seine Gestalt,
[majestätisch] wie seine Zedern.
16. Sein Mund ist lauter Süße,
alles an ihm ist entzückend;
Das ist mein Liebster und Freund,
ihr Mädchen Jerusalems.
VII.
Die Braut preist den Bräutigam am Tage nach der Hochzeit
1, 16. Sieh, du bist schön mein Geliebter,
ja süß, unser Bette wird grünen.
17. Unsres Prachthauses Balken sind Zedern,
von Cypressen das Deckengetäfel.
2, 3. Wie ein Apfel unter Waldesbäumen,
unter Jünglingen so mein Liebster;
In seinem Schatten ich gerne weile,
seine Frucht ist süß meinem Gaumen.
4. In's Weinhaus führte er mich;
das Zeichen daselbst war die Liebe;
5. Er mich labte mit süßen Kuchen
und stillte mein Gelüste mit Äpfeln,
6. Seine Linke unter meinem Haupte,
mit der Rechten mich zärtlich umfangend.
1, 12. So lange der König zu Tisch lag,
strömte aus ihren Duft meine Narde;
13. Mein Liebster war mein Myrrhensäckchen,
das des Nachts ruht an meinem Busen;
14. Mein Liebster war wie Hennablüten
in den Gärten von Engedi.
2. Mit deines Mundes Küssen küß' mich!
deine Liebe ist besser denn Wein;
3. Geklärtes Duftöl ist dein Name,
darum lieben dich alle Mädchen.
4. Nimm mich mit dir, komm, laß uns eilen!
in deine Kammer, o König, führ' mich!
Dort wollen wir uns freu'n und vergnügen,
an deiner Liebe uns berauschen statt Wein.
2, 16. Er ist mein, und ich bin sein,
der auf dunklen Lilien weidet.
17. Bis der Morgenwind anfängt zu wehen
und die Schatten entfliehen, schwelge!
Ja, springe, springe, mein Liebster
wie Gazellenböckchen und Spießer,
│Spießer: ein junger Hirsch
[Auf dem Berge (duftender) Myrrhe,
auf dem Hügel (köstlichen) Weihrauchs!]
7. Ihr Mädchen, laßt euch erbitten,
bei den Gazellen und Hinden der Flur,
Stört und scheucht nicht auf unsre Liebe,
bis es ihr selbst gefällt!
VIII.
Die Reize der Geliebten
4, 1. Sieh, du bist schön,
meine Freundin,
sieh, wie Tauben sind deine Augen.
Dein Haar gleicht den (schwarzen) Ziegen,
die auf Gileads Bergen klettern;
2. Deine Zähne eine Herde (weißer Schafe)
Glattgeschoren und frisch aus der Schwemme,
Die allzumal Zwillinge tragen,
keine Mutter ohne ein Lamm.
3. Karmesinbänder sind deine Lippen,
und lieblich ist dein Mund.
Deine Schläfe wie Granatapfelritze
hinter deinem Schleier schimmern.
4. Wie der Davidsturm ist dein Hals,
gebaut als festes Bollwerk;
Daran Schilde gewaltiger Recken.
1, 9. Den Rossen an Pharaos Wagen
vergleiche ich dich, meine Freundin,
10. Deine Wangen schmücken Gehänge,
Korallen umwinden den Hals.
4, 5. Wie zwei Hirschkälbchen sind deine Brüste,
wie [zwei] Gazellen-Zwillinge.
7. Schön ist alles an dir, meine Freundin,
kein Makel ist an dir zu finden.
6, 3. Schön bist du, o meine Freundin,
Jerusalem gleichst du an Anmut.
4. Wend' an von mir deine Augen;
denn sie verwirren mich.
4, 9. Ein Blick von dir machte mich sinnlos,
ein Kettchen an deinem Halse.
10. Wie hold deine Liebe, Schwester,
deine Liebe ist besser denn Wein.
11. Honigseim deine Lippen träufeln,
und süße Milch birgt deine Zunge;
Wie Libanon duften deine Kleider,
10. {dein Duft übertrifft jeden Balsam.}
12. Meine Schwester ist ein Gartengehege,
ein Quell in verschlossener Fassung,
15. Ein Born lebendigen Wassers
von Libanons Bergen rieselnd;
13. Dein Stollen ein Granatenlusthain
mit [allerlei] köstlichen Früchten,
14. Narde, Kalmus und Zimmetbäumen,
nebst allerlei Weihrauchsträuchern.
16. Erwache, Nordwind!
Komme, Südwind!
Fächelt meinen Garten!
Laßt die Düfte ausströmen!
IX.
Der Lustgarten der Braut
Die Braut
4, 17. Zu seinem Garten
komme mein Liebster
und genieße die köstlichen Früchte.
7, 11. Komm, Liebster, laß uns spazieren,
unter Hennablüten nächt'gen,
12. Am Morgen in die Weinberge gehen,
zu sehn, ob die Weinreben sprossen,
Die Weinblüten sich entfalten,
und die Granaten blühen.
13. Die Liebesäpfel duften,
vor der Tür sind die köstlichsten Früchte,
Nicht nur frische, sondern auch firne,
die, mein Liebster, ich dir bewahrt.
Der Bräutigam
6, 10. Zum Nußgarten stieg
ich hernieder,
die Knospen des Tals zu sehen,
Zu sehn, ob die Weinreben sprossen,
und die Granaten blühen.
5, 1. In meiner Schwester Garten ging ich,
meine Myrrhen und Würzkräuter pflückt' ich,
Meine Honigwaben aß ich,
meinen Wein, meine Milch schlürft' ich.
Die Braut
6, 1. Zu seinem Garten
stieg mein Liebster hernieder,
zu den Beeten balsamischer Düfte,
Zu weiden in dem herrlichen Garten,
einzuheimsen die dunklen Lilien.
X.
Liebesfrühling
2, 8. Horch! mein
Liebster!
sieh! da kommt er!
Über Berge eilend,
über Hügel springend.
9. Sieh, da steht er
hinter unsrer Mauer!
Aus dem Fenster blick' ich,
durch das Gitter guck' ich.
10. Auf! meine Freundin!
komm', meine Schöne!
11. Denn sieh, vorbei ist der Winter,
vorüber die Zeit der Regen.
12. Schon schmücken Blumen die Erde,
schon singen die Vöglein wieder.
Die Turteltauben girren,
[die Schwalben sind] heim[gekehrt].
13. Es reifen die Winterfeigen,
süß duften die Rebenblüten.
Auf! meine Freundin!
komm', meine Schöne!
14. Meine Taube in den Felsspalten,
in den Ritzen der Klippe,
[Öffne, meine Schwester!
meine Freundin, mein Engel!]
2. Deinen Anblick mir gönne,
deine Stimme laß mich hören!
Deine Stimme so süß,
deinen Anblick so lieblich!
[Auf! meine Freundin,
komm', meine Schöne!]
XI.
Weide deine Zicklein!
1, 7. Sag' mir, mein
Herzallerliebster,
wo wirst du zu Mittag rasten?
Damit ich nicht irre gehe
bei den Herden deiner Gesellen.
8. Wenn du das nicht selber weißt,
so folge den Spuren der Herde,
Dann magst deine Zicklein du weiden
bei den Zelten der anderen Hirten!
XII.
Omnia vincit Amor
3, 1. Zur Nachtzeit auf
meinem Lager
sehnt' ich mich nach meinem Herzliebsten.
2. "Ich will aufstehn, die Stadt durchstreifen
auf den Gassen und auch auf den Plätzen."
3. Männer traf ich, die die Stadt durchstreiften:
"Habt ihr meinen Herzliebsten gesehn?"
4. Kaum war ich an ihnen vorüber,
da fand ich meinen Herzliebsten.
Ich umfaßt' ihn und wollt' ihn nicht lassen;
[ich sagte zu meinem Herzliebsten:]
8, 6. "An deinem Herzen laß mich ruhn wie dein Siegel,
wie den Siegel(ring) an deiner Rechten!"
Denn stark wie der Tod ist die Liebe;
unbeugsam wie die Hölle, die Leidenschaft.
Ihre Gluten sind Feuergluten,
ihre Flammen zucken wie Blitze.
7. Nichts vermag ihre Glut zu löschen,
selbst Ströme können sie nicht ersticken.
Wenn einer für sie alles hingäbe,
könnte man ihn darum verachten?
Anmerkung:
eckige Klammern [] deuten Stellen, die im hebr. Texte ergänzt werden
müssen
runde Klammern () deuten unwesentliche Auffüllungen an, die nur bei der
Übersetzung der Deutlichkeit oder des Rhythmus wegen hinzugefügt worden
sind
geschweifte Klammern {} bezeichnen Umstellungen des überlieferten Textes
Aus: Biblische Liebeslieder
Das sogenannte Hohelied Salomos
unter steter Berücksichtigung der Übersetzungen
Goethes und Herders
in Versmasse der Urschrift verdeutscht und erklärt
von Paul Haupt
Professor der semitischen Sprachen und Direktor
des Orientalischen Seminars an der
Johns-Hopkins-Universität in Baltimore
Leipzig J. C. Hinrich'sche Buchhandlung 1907
Baltimore The Johns Hopkins Press