Das Hohe Lied Salomos

In der Übertragung von Karl Wilhelm Justi (1767-1846)

 


Wassily Kandinsky (1866-1944)
Improvisation 209




Salomonische Hochgesänge der Liebe
das Lied der Lieder Salomo's genannt

I.

1. Das Lied der Lieder Salomo's


Das Mädchen
2. O küsst' er mich mit seines Mundes Küssen! - -
Denn köstlicher, als Wein, ist deine Liebe!

3. Sie duftet, wie dein Salböl, Wohlgeruch; -
Dem ausgegossnen Balsam gleicht dein Name;
Drum lieben dich die Mädchen.

4. Zieh mich dir nach, und lass uns eilen!
Als führte mich der König in sein Harem,
So froh und freudig sind wir über dich,
Gedenken deiner zarten Liebe,
Und lieben höher dich, als edlen Wein! -

5. Schwarz bin ich zwar, doch lieblich,
Ihr Töchter von Jerusalem!
Wie Kedarenen-Zelte,
Wie Decken Salomo's!

6. Schaut mich nicht an, dass ich so schwarzbraun bin,
Die Sonne hat mich so gebräunt!
Es zürnten meiner Mutter Söhne mir,
Und setzten mich zur Weinbergs-Hüterin: -
Doch meinen Weinberg - hab' ich nicht gehütet! -

7. O sage mir, den meine Seele liebt:
Wo weidest du?
Wo schläfst du deinen Mittags-Schlummer?
Denn warum sollt' ich hin und her
Bei deiner Freunde Heerden irren?


Der Jüngling
8. Weisst du es nicht, der Jungfrauen Schönste?
So folge nur der Heerde Spur,
Und weide deine Ziegen
Bei jenen Hirtenzelten!

9. Dem Prachtgespann' am Wagen Pharao's
Vergleich' ich, meine Holde, dich!

10. Schön blicken durch die Kettlein deine Wangen,
Dein Hals durch Perlenreihen!
11. Ich schaffe goldne Spangen dir,
Gesprenkt mit Silber-Pünktchen!


Das Mädchen
12. Indess der König an der Tafel weilet,
Verbreitet meine Narde ihren Duft!

13. Ein Myrrhen-Sträuschen ist mein Trauter mir,
An meinem Busen hangend.

14. Ein Zyprus-Träubchen ist mein Trauter
Mir auf Engeddi's Rebenhügeln.


Der Jüngling
15. Schön bist du, meine Holde!
Schön bist mit deinen Tauben-Augen du!


Das Mädchen
16. Schön bist du, mein Lieber, du, und reizend; -
Ein frisches Grün ist unser Lager;

17. Die Balken unsers Hauses - Zedern,
Zypressen unsre Latten! - -


II.

Das Mädchen
1. Ich bin die Rose Saron's,
Die Lilie des Blumenthals,

Der Jüngling

2. Wie unter Dorngesträuch die Lilie,
So unter Jungfraun, meine Traute!


Das Mädchen
3. Was unter'n Waldgehölz' ein Apfelbaum,
Das ist mein Lieber unter Jünglingen!
In seinem Schatten wünsch' ich auszuruhen,
Und süss ist meinem Gaumen seine Frucht!

4. Er macht mich liebetrunken,
Und über mir weht sein Panier, die Liebe!

5. O stärket mich mit Traubensaft,
Und labt mich mit des Obstbaums Frucht;
Denn ich bin liebekrank!

6. Des Holden Linke ruht mir unter'm Haupte,
Mit seiner Rechten hält er mich umschlungen!


Der Jüngling
an die Gespielinnen seiner Geliebten
7. Ich beschwör' euch, Jerusalems Töchter!
Bei den Gazellen,
Bei den Rehen der Flur,
Wecket sie nicht,
Störet die Traute nicht,
Bis sie von selbst erwacht!


Das Mädchen
8. Die Stimme meines Holden!
Ach! seht, er kommt!
Er springet über Berge,
Und hüpfet über Hügel!

9. Es gleicht mein Liebling der Gazelle,
Er gleicht dem jungen Hirsch!
Da steht er schon!
Steht hinter unsrer Wand,
Schaut durch die Fenster-Öffnung,
Und blicket durch das Gitter!

10. Mein Lieber ruft mir zu, und spricht:
"Auf, meine Freundin! meine Schönste!
Auf, komm mit mir!

11. Denn sieh', der Winter ist vergangen,
Die Regenzeit dahin, vorüber!

12. Schon sieht man junge Sprossen auf dem Felde,
Die Zeit der Lieder naht!
Der Turteltaube Girren
Vernimmt man auf der Flur!

13. Der Feigenbaum würzt seine Früchte,
Die jungen Trauben-Blüten
Verbreiten Wohlgeruch.
Auf, Holde! Freundin, auf! hinaus!

14. Mein Täubchen in den Felsenklüften,
In steiler Berge Höhlen!
Lass mich dein Antlitz schauen,
Vernehmen deine Stimme,
Denn deine Stimm' ist lieblich,
Und hold dein Angesicht!" - -

15. Die Füchse fang uns weg,
Die kleinen Füchse, die Verwüster unsers Weinbergs,
Denn unser Weinberg knospet schon! - -

16. Mein Freund ist mein, und ich bin sein;
Er weidet unter Lilien! -

17. Wenn kühler wird der Tag,
Und sich die Schatten längern:
Dann kehre heim, o Freund, wie die Gazelle,
Und wie der junge Hirsch,
Der über Scheidewege springet!



III.

Das Mädchen
1. Des Nachts auf meiner Lagerstätte
Sucht' ich den Liebling meines Herzens auf;
Ich sucht' ihn, aber fand ihn nicht!

2. "Wohlan! mein Bett will ich verlassen,
Will wandern durch die Stadt,
Auf allen Plätzen und in allen Strassen
Den Liebling meines Herzens suchen!"
Ich sucht' ihn, aber fand ihn nicht!

3. Da fanden mich die Wächter,
Als sie die Stadt durchstreiften.
"Saht ihr den Liebling meines Herzens nicht?"

4. Kaum war ich weg von ihnen,
So fand ich ihn, den meine Seele liebt.
Nun halt' ich ihn, und lass ihn nicht,
Bis ich ihn führ' in meiner Mutter Haus,
In meiner Mutter Kammer!


Der Jüngling
5. Ich beschwör' euch, Jerusalems Töchter!
Bei den Gazellen,
Bei den Rehen der Flur,
Wecket sie nicht,
Störet die Traute nicht,
Bis sie von selbst erwacht!


Aufforderung an die Jungfrauen Jerusalem's,
die Pracht Salomo's an seinem
Vermählungsfeste zu sehen
6. Was steiget von der Wüste dort empor,
Wie säulengrader Rauch?
Der Myrrhe und des Weihrauchs Wohlgeruch,
Der alle Kaufmanns-Würze übertrifft? - -

7. Ha! seht die Sänfte Salamo's!
Es stehen sechzig Helden um ihn her,
Die Tapfersten in Israel!

8. Ein jeder mit dem Schwert bewaffnet,
Des Krieges kundig;
Ein jeder trägt's an seiner Hüfte
Vor mitternächt'gem Grauen!

9. Dies Prachtbett machte sich der König Salomo,
Aus Zedernholz vom Libanon!

10. Die Säulen macht' er sich von Silber,
Und das Gestell von Gold,
Von Purpur seinen Ruhesitz.
Die Holdeste von allen Töchtern
Jerusalem's schmückt seine Mitte aus.

11. Geht hin, und schaut, ihr Töchter Zion's!
Den König Salomo in seinem Blumenkranze,
Womit ihn seine Mutter
Am Tage der Vermählung schmückte,
Am Wonnetage seines Herzens! -


IV.

Der Jüngling
1. Schön bist du, meine Traute, schön!
Wie Täubchen, blicken deine Augen durch den Schleier!
Dein Lockenhaar gleicht einer Ziegenheerde,
Die längs dem Gilead sich lagert;

2. Und deine Zähne sind wie Schäfchen,
Die, neugeschoren, aus dem Bade steigen, -
Sie alle Zwillings-Mütter,
Und keines kinderlos.

3. Den Purpurfaden gleichen deine Lippen,
Und anmuthsvoll ist deine Stimme; -
Wie am Granat der Ritz,
So deine Wangen unter'm Schleier!

4. Dein Hals ist wie der David-Thurm,
Erbaut zur Waffenburg.
Es hängen tausend Schilde dran,
Der Helden Rüstung alle.

5. Es gleichen deine Brüste zwei Gazellen,
Den Zwillingen von Einer Mutter,
Die unter Liljen weiden.


Das Mädchen
6. Bis sich der Tag abkühlt,
Und sich die Schatten dehnen,
Will ich zum Myrrhenberge,
Zum Weihrauchshügel wallen!


Der Jüngling
7. Ganz schön bist, Holde, du!
Kein Fehler ist an dir!

8. Vom Libanon komm mit mir, meine Braut,
Vom Libanon komm mit herab! -
Und blicke von Amana's Gipfel,
Von Schenir's Hügel und vom Hermon weit umher;
Vom Aufenthalt der Löwen,
Vom Leoparden-Berge!

9. Du hast mein Herz verwundet,
O Schwester! holde Braut!
Verwundet mich, mit Einem deiner Blicke,
Mit Einer Kette deines Halsgeschmeides!

10. Wie süss ist deine Liebe,
Du, meine Schwester, Braut!
Weit süsser noch, als Wein, ist deine Liebe,
Und lieblicher der Duft von deinen Salben,
Als alle Würze! -

11. Von deinen Lippen, Holde! träufelt Honigseim,
Und unter deiner Zung' ist Milch und Honig;
Dem Duft' vom Libanon
Gleicht deiner Kleider Duft!

12. Ein wohlverwahrter Garten,
Bist du! o Schwester, Braut!
Bist ein verschlossner Quell,
Ein Brunnen, zugesiegelt!

13. Was du hervorbringst, ist
Ein Lustgefilde von Granaten
Voll süsser Früchte: Zyprus, Narde,

14. Und Nard' und Krokus, Würzrohr, Zimmet,
Der Weihrauchs-Stauden mancherlei,
Und Myrrh' und Aloe mit aller edlen Würze

15. Der Gartenquell ein Born lebend'gen Wassers,
Das sich vom Libanon ergiesst.
16. Auf, Nord! und Südwind, auf!
Durchhauche meinen Garten,
Der von Gewürzen träuft!

Das Mädchen
Mein Trauter komm' in seinen Garten,
Und koste seine edlen Früchte!



V.

Der Jüngling
1. Ich komm' in meinen Garten,
O, meine Schwester, meine Braut!
Dann pflück' ich meine Myrrhe, meinen Balsam,
Ich esse meinen Honigseim und Honig,
Und trinke meinen Wein und meine Milch!
Esset, Freunde!
Trinkt euch satt, ihr Lieben!


Eine Traum-Erzählung des Mädchens
2. Ich schlummerte, doch wachte meine Seele.
Die Stimme meines Trauten!
Er klopfet an!
"Thu' auf, o Schwester, hold Freundin,
Mein Täubchen! meine Schöne!
Mein Haupt ist thaubenetzt,
Nachttropfen rieseln mir vom Haar!"

3. "Schon bin ich des Gewandes entladen,
Soll ich auf's neue mich bekleiden?
Schon wusch' ich meine Füsse rein:
Soll ich auf's neue sie bestäuben?"

4. Da streckt' mein Lieber durch das Gitter seine Hand;
Mein Herz schlug ihm entgegen!

5. Jetzt stand ich auf; zu öffnen meinem Liebling;
Von Myrrhe troffen meine Hände,
Und edle Myrrhe rann
Von meinen Fingern auf des Schlosses Riegel!

6. Auf that ich meinem Liebling;
Doch war mein Liebling fort! entfloh'n!
Entgangen war mir, da er sprach, die Seele!
Ich sucht' ihn, aber fand ihn nicht,
Ich rief ihm zu; doch keine Antwort!

7. Die Wächter fanden mich, als sie die Stadt durchstreiften:
Sie schlugen blutig mich und wund.
Die Mauerhüter raubten mir den Schleier.

8. Ich beschwör' euch, Jerusalems Töchter!
Trefft ihr meinen Holden an,
Sagt ihm, ich sey krank vor Liebe.


Frage der begleitenden Jungfrauen
9. "Was hat dein Liebling denn voraus vor andern?
O du, der Frau'n Schönste!
Was hat dein Liebling denn voraus,
Dass du uns so beschwörest?" - -


Antwort des Mädchens
10. Mein Freund ist weiss und roth,
Und vor Zehntausenden erkohren!

11. Sein Hauptschmuck ist das feinste Gold,
Sein Haar ist krausgelockt und rabenschwarz!

12. Es gleichen seine Augen
Den Täubchen an der Quelle,
In Milch gebadet,
Und schwimmend in der Fülle!

13. Gleich einem Blumenfelde,
Würzbeeten gleich sind seine Wangen,
Und Purpur-Liljen seine Lippen,
Von welchen flücht'ge Myrrhe träuft!

14. Es gleichen goldnen Walzen seine Hände,
Besetzt mit Hyazinthen;
Sein Leib ist glänzend Elfenbein,
Geschmücket mit Sapphiren;

15. Die Schenkel Marmorsäulen,
Auf goldnem Fussgestelle.
Sein Ansehn gleicht dem Libanon,
Wie Zedern, auserlesen.

16. Sein Mund ist honigsüss,
Und Alles wonniglich an ihm!
So ist mein Trauter, so mein Freund!
Ihr Töchter von Jerusalem!



VI.

Die begleitenden Jungfrauen
1. Wo ging er hin, dein Holder!
O du, der Frauen Schönste!
Wo wandte sich dein Holder hin?
Wir suchen ihn mit dir!


Antwort des Mädchens
2. Mein Holder ging hinab in seinen Garten,
Hin zu den Balsambeeten,
Zu weiden in dem Garten,
Und Lilien zu sammeln.

3. Mein ist mein Trauter, ich bin sein,
Er weidet unter Lilien.


Der Jüngling
4. Schön bist du, meine Traute!
Wie Thirza schön,
Bist prächtig, wie Jerusalem,
Und furchtbar-schön, wie Heeres-Reihen!

5. O wende deinen Blick von mir;
Er überwältigt mich!
Dein Haar gleicht einer Ziegenheerde,
Die längs dem Gilead sich lagert;

6. Und deine Zähne - Lämmerheerden,
Gebadet in dem frischen Quell,
Sie alle Zwillinge gebährend,
Und keine kinderlos.

7. Wie am Granat ein Ritz,
So deine Wangen unter'm Schleier!

8. Hab' einer auch der Königinnen sechzig,
Der Neben- Frauen achtzig,
Und Zofen ohne Zahl:

9. Nur Eine ist mein Täubchen, meine Holde,
Die Auserwählte ihrer Mutter,
Die Liebste deren, die sie einst gebar!
Es sah'n die Mädchen sie,
Und priesen sie glückselig,
Die Königinnen
Und Nebenfrauen lobten sie!


Die königlichen Gemahlinnen und Zofen
10. "Wer ist die, deren Anblick
Der Morgenröthe gleicht?
Schön wie der Mond, rein wie die Sonne,
Und furchtbar, wie ein Kriegesheer!"


Das Mächen
(erzählt seinem Geliebten)
11. Zum Nussgehölz' war ich gegangen,
Zu schauen das Gesträuch im Thal,
Zu sehen, ob der Weinstock knospe?
Ob die Granaten trieben? --

12. Mir ahnte nichts! - -
Da bangt' ich scheu zurück
Bei'm Anblick' eines Wagenzuges! - -


 
VII.

Nachruf eines lüsternen Städters
1. Kehr' um, kehr' um, o Sulamith!
Kehr' um, kehr' um, dass wir dich schauen!

Das Mädchen
"Was wollt ihr schaun an Sulamith?"


Der Städter
Sie, die den Heeres-Reihen gleicht!

2. Wie schön sind in den Schuhen,
O Fürstentochter, deine Tritte!
Die Wölbung deiner Hüfte gleicht
Dem Kettenwerk von Meisterhand geschlungen!

3. Dein Schooss - ein runder, voller Becher,
Mit Würzwein angefüllt!
Dein Leib - ein Waizenhügel,
Mit Lilien umsteckt!

4. Und deiner Brüste Paar -
So fein und schüchtern, wie Gazellen;
Ein Zwillings-Paar von Einer Mutter!

5. Dein Hals, ein Thurm von Elfenbein,
Und deine Augen, klar, wie Hesbons Teiche,
Am Thor der Fürstentöchter:
Die Nase, wie der Thurm auf Libanon,
Der nach Damaskus schaut.

6. Dein Hauptschmuck gleicht dem Karmel,
Die Locken deines Haupts dem Purpur,
Am Königs-Bunde schön geschlungen! -

7. Wie schön bist du!
Wie reizend, meine Holde!

8. Dein Wuchs ist gleich dem Palmenbaum,
Den Träubchen gleichen deine Brüste!

9. Gern möcht' ich auf den Palmbaum klimmen,
Umschlingen seine Zweige!
Dein Busen sey mir Trauben-Blüthe,
Und deines Athems Hauch mir Apfelduft!

10. Dein Gaumen gleicht dem edlen Wein --


Das Mädchen
"Der meinem Trauten gleitet sanft hinab,
Und der dem Schlummernden
Beredte Lippen schafft!

11. Ich bin für meinen Holden,
Er sehnet sich nach mir.

12. Auf, Trauter! lass uns eilen auf die Flur,
Und unter Zyprus-Bäumen übernachten!

13. Dann wallen früh zum Rebenberg' wir hin,
Und sehen, ob der Weinstock sprosse,
Ob sich die Traubenblüthen öffnen,
Und die Granaten blüh'n?
Dort weih' ich dir meine Liebe!

14. Die Liebesäpfel duften schon,
Und über unsre Pforte
Hab' ich der Früchte mancherlei,
Der neuen und der alten,
Dir, Holder, aufbewahrt!"



VIII.

Das Mädchen
1. O wärest du mein Bruder,
Der meiner Mutter Brust gesogen!
Fänd' ich dich draussen dann,
So küsst' ich dich, und niemand höhnte mich darob!

2. Ich führt' und brächte dich
In meiner Mutter Wohnung;
Du lehrtest mich: ich tränkte dich
Mit Würzwein und Granaten-Most!

3. Unter meinem Haupte seine Linke,
Mit der Rechten hält er mich umschlungen!


Der Jüngling
an die Gespielinnen seines Mädchens
4. Ich beschwör' euch,
Töchter Jerusalems!
Wecket und störet die Holde nicht,
Bis sie von selber erwacht!


Der Dichter
5. Wer ist sie, die herauf
Dort aus der Wüste kommt,
Gelehnt auf ihren Freund!


Der Jüngling
"Einst weckt' ich dich
Dort unter'm Apfelbaume,
Wo deine Mutter dich gebar,
Wo die Gebährerin entbunden ward von dir!"


Das Mädchen
6. Präg', wie ein Siegel, mich auf deine Brust,
Wie einen Siegelring auf deinen Arm!
Denn stark ist, wie der Tod, die Liebe,
Und fest ihr Eifer, wie das Todtenreich;
Der Gluth des Feuers gleichet ihre Gluth,
Jehovens Blitzen!

7. Die stärkste Fluth löscht nicht die Liebe,
Es reissen Ströme sie nicht fort!
Böt einer auch sein Haus und Guth um Liebe,
Verschmäht, verspottet würd' er nur!


Die Brüder
(Der erste)
8. Noch klein ist unsre Schwester,
Ihr Busen noch nicht reif!
Was thun wir unsrer Schwester,
Wenn jemand um sie wirbt?

(Der andere)
9. Wird sie einst eine Mauer,
So bau'n wir silbern Bollwerk drauf,
Und wird sie eine Pforte,
So wahren wir mit Zedernbalken sie!

Die Schwester
10. Eine Mauer bin ich schon,
Meine Brüste sind wie Thürme,
Schon gefall' ich meinem Holden!

11. Zu Baal-Hamon hatte
Einen Weinberg Salomo,
Hütern gab er seinen Weinberg:
Jeder sollt' ihm für die Früchte
Tausend Silberstücke bringen! - -

12. Doch mein Rebenhügel liegt vor mir,
Tausend sey'n, o Salomo, für dich,
Und zweihundert für die Hüter deiner Frucht!


Der Jüngling
13. Die du wohnest in den Gärten,
Deiner Stimme horchen die Gespielen,
Lass auch mich sie hören! - -


Das Mädchen
14. Mein Trauter, eile, -
Wie die Gazelle,
Und wie ein junger Hirsch -
Auf Würzgebirge! -



Aus: Blumen althebräischer Dichtkunst
Herausgegeben von D. Karl Wilhelm Justi
Erster Band, welcher die vier ersten Bücher enthält
Giessen bei Georg Friedrich Heyer 1809





 

 

 

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