Das Hohe Lied Salomos

In der Übertragung von Ernst Meier (1813-1866)

 


Wassily Kandinsky (1866-1944)
Improvisation 209




Das Hohelied

Erstes Bild
Kap. 1, 2 - 7.

Sulamit

1 a. O würde mir ein Kuss
Von den Küssen seines Mundes!
Denn süßer ist
Deine Liebe als Wein.
Es duften deine Salben
So köstlich,
Wie Balsam ergießt sich
Dein Name;
Darum lieben
Die Jungfrauen dich:
O zieh' mich dir nach!
O laß uns laufen!

1 b. Es führte mich
In sein Gemach der König:
"Frohlocken und freu'n wir uns!
Dich wollen wir preisen,
Mehr als Wein deine Liebe!
Man liebt dich aufrichtig!"
 

Eine der Hoffrauen

[Was machst du denn
Im Weinberg allein,
Du schönste der Frauen?
So rein wie die Sonne,
So glänzend wie der Mond,
So lieblich wie Morgenroth!]
 

Sulamit

1 c. Schwarz bin ich und lieblich,
Ihr Töchter Jerusalems,
Wie Kedars Gezelte,
Wie die Zelttücher Salomo's.
Schaut mich nicht an
Daß so schwarz ich bin,
Daß mich verbrannt hat
Die Sonne!
Die Söhne der Mutter mein
Mochten mir böse sein,
Setzten zur Hut mich ein
Über den Weinberg.

2 a. Den Weinberg, der mein ist,
Den hütete ich nicht.
O sage mir,
Du, den da liebet
Meine Seele:
Wo weidest du?
Wo weilest du
Zur Mittagszeit?
Damit ich nicht
Schier ganz hinschmachte
[Dich suchend] bei den Heerden
Deiner Freunde.
 

Eine der Hoffrauen

2 b. [Sieh doch den König
Salomo an!
Denn Gnade hast du
Vor ihm gefunden;
Fülle von Freuden
Erwartet dich hier.]
Doch wenn du nicht klug bist,
Du schönste der Frauen,
So geh nur hinaus
Den Spuren der Schaafe nach,
Und weide deine Zicklein
Bei den Hütten der Hirten!
 

Salomo

2 c. Meinem Mutterpferde
Von Pharao's Gespann
Vergleiche ich dich,
O meine Freundin!
Wie schön deinen Wangen
Die Perlen stehn,
Und deinem Halse
Die Korallenreihen!
Goldene Schnüre
Woll'n wir dir machen
Und Kügelein
Von Silber.
 

Sulamit

3 a. Als der König noch weilte
Bei seiner Tafel,
Gab meine Narde
Ihren Duft.
Ein Balsamfläschlein
Ist mein Geliebter,
Das da ruht
An meinem Busen.
Eine Cyperblume
Ist mein Geliebter,
Die da wächst in den Gärten
Von Engedi.
 

Salomo

3 b. Sieh, du bist schön,
O meine Freundin!
Sieh, du bist schön,
Hast Taubenaugen!
 

Sulamit

Sieh, du bist schön,
Mein Geliebter, und lieblich;
Doch unser Lager
Das ist grün:
Die Balken unsrer Häuser
Das sind die Cedern,
Und unsre Wände
Sind Cypressen.

3 c. Eine Zeitlose bin ich
Auf Saron's Flur,
Eine Lilie
In den Thälern.
 

Salomo

Wie eine Lilie
Unter den Dornen,
So meine Freundin
Unter den Töchtern!
 

Sulamit

Wie ein Apfelbaum
Unter den Waldesbäumen,
So ist mein Geliebter
Unter den Söhnen.

4 a. In seinem Schatten
Möchte ich weilen,
Denn süß ist seine Frucht
Für meinen Mund.
Er führt mich hin
Zum Weinbehälter,
Als Fahne dient mir
Seine Liebe.

O stärket mich
Mit Traubenkuchen!
Erquickt mich
Mit duftenden Äpfeln!

4 b. Denn krank bin ich
Vor Liebe!
Unter's Haupt seine Linke mir!
Und seine Rechte umfaße mich!
Ich beschwör' euch,
Ihr Töchter Jerusalems
Bei den Gazellen
Und den Hinden des Feldes:
Nicht zu erregen
Noch zu bewegen
Die Liebe,
Bis ihr es gefällt!

 

Zweites Bild
Kap. 2, 8 - 17.

Sulamit

4 c. Horch, mein Geliebter!
Siehe, da kommt er!
Springt über die Berge,
Hüpft über die Hügel.
Es gleicht mein Geliebter
Der Gazelle
Oder dem Jungen
Der Hindinnen.

Siehe, da steht er
Hinter unsrer Mauer,
Schaut hervor
Durch das Fenster!

5 a. Er glänzt hervor
Hinter dem Gitter,
Da beginnt mein Geliebter
Und spricht zu mir:
"Steh auf doch,
Du Holdige
Goldige
Und lauf doch!
Denn fortgezogen
Ist der Winter,
Der Regen verflogen
Und ist dahin!

5 b. Drauß blinken die Blumen,
Die Singzeit ist da;
Das Girren der Turtel
Vernimmt man im Land!
Der Feigenbaum treibt schon
Seine Knollen,
Die Rebenstöcke
Blühen auf doch,
Du Holdige
Goldige
Und lauf doch!

5 c. Mein Täubchen im Geklüft,
Im Versteck der Steige,
Laß mich sehn dein Gesicht,
Laß mich hören deine Stimme!
Denn süß ist deine Stimme
Und lieblich dein Anblick."
 

(Sulamits Brüder)

"Fanget uns doch
Die Füchse,
Die kleinen Füchse,
Die Weinberg-Verderber!
Denn unser Weinberg
Steht in Blüte."
 

Sulamit

6 a. Mein Geliebter ist mein
Und ich bin sein,
Er der da weidet
Unter den Lilien.
Bevor noch wehet
Die Abendkühle
Und eh' noch verschwinden
Die Schatten:
Komm Liebster und gleiche
Der Gazell' und dem Jungen
Der Hindinnen
Auf dem Balsamgebirge!

 

Drittes Bild
Kap. 3, 1 - 5.


Sulamit

6 b. Auf meinem Lager
Da sucht' ich bei Nacht
Ihn, den da liebet
Meine Seele.
Ich suchte ihn
Und fand ihn nicht.
"So will ich aufstehn und umhergehn
In der Stadt, auf den Straßen!
Auf den freien Plätzen,
Da will ich suchen
Ihn den da liebet
Meine Seele!"

6 c. Ich suchte ihn
Und fand ihn nicht;
Mich fanden die Wächter
Die umhergehn in der Stadt:
"Ihn, den da liebet
Meine Seele,
O saht ihr ihn nicht?"
Kaum war ich vorüber
An ihnen
So hab' ich gefunden
Ihn, den da liebt
Meine Seele.

7 a. Ich thät ihn faßen und nicht laßen
Bis daß ich ihn geführt
Ins Haus meiner Mutter,
Ins Gemach meiner Mutter.
Ich beschwör' euch,
Ihr Töchter Jerusalems
Bei den Gazellen
Und Hinden des Feldes:
Nicht zu erregen,
Noch zu bewegen
Die Liebe,
Bis ihr es gefällt.

 

Viertes Bild
Kap. 3, 6 - Kap. 5, 1.
 

7 b. Wer ist sie, die da steigt
Von der Trift herauf,
Rauch-Säulenartig,
Von Myrrhen duftend,
Von Weihrauch
Und allerlei Rauchwerk?
Sieh Salomo's Ruhbett!
Sechzig Helden
Umgeben es.
Schwertführend sind alle
Und kriegeskundig,
An jedes Seit' ist sein Schwert.

7 c. Ein Brautbett
Machte sich der König
Salomo
Von Libanons Bäumen:
Sein Gestell
Machte er silbern,
Und von Gold
Seine Decke;
Die Kissen von Purpur,
Die Mitte soll schmücken
Eine Liebe
Aus Israels Töchtern.

8 a. Gehet und sehet,
Ihr Töchter Zions,
Auf Salomo, den König,
Und auf die Krone,
Mit der ihn bekränzte
Seine Mutter
Am Tag seiner Hochzeit
Und seiner Herzenslust!
 

Salomo

Sieh, du bist schön,
O meine Freundin!
Sieh, du bist schön,
Hast Taubenaugen!

8 b. Dein Haar, das gleicht
Der Gaisenheerde,
Die da herabwallt
Vom Gilead;
Deine Zähne gleichen
Der geschorenen Schaafheerd',
Die da aufsteigt
Aus der Schwemme:
Zwillingsgeborene
Sind sie alle,
Ein verwaistes
Ist nicht darunter.

8 c. Wie ein Purpurstreifen
Sind deine Lippen,
Und dein Mundwerk
Ist gar lieblich.
Der halben Granate
Gleicht deine Wange;
Dein Hals ist
Wie Davids Thurm,
Erbaut zum Bollwerk der Eingänge:
Tausend Schutzwaffen
Hängen daran
Alle Schilde der Helden.

9 a. Deine zwei Brüste
Sind wie ein Pärchen
Von Zwillings-Gazellen,
Unter Lilien weidend.
Bevor noch wehet
Die Abendkühle
Und die Schatten
Verschwinden:
Möchte ich gehn
Zum Myrrhenberge
Und zum Hügel
Des Weihrauchs!
 

Sulamit

9 b. Mit mir vom Libanon,
O Braut,
Mit mir vom Libanon
Sollst du kommen!
Sollst sehen vom Gipfel
Des Amana,
Vom Gipfel des Senir
Und des Hermon!
Von den Höhlen der Löwen,
Von den Bergen der Pardel!
[Denn] du machst mich herzhaft,
O Schwester Braut!

9 c. Du machst mich herzhaft
Durch eins deiner Augen,
Durch eins der Kettchen
Von deinem Halse.
Wie schön ist deine Liebe,
Meine Schwester, Braut!

Wie süß ist deine Liebe,
Süßer als Wein!
Deiner Salben Duft
Geht allem Balsam vor;
Honigseim träufeln
Deine Lippen, o Braut!

10 a. Honig und Milch
Ist unter der Zunge dir,
Und der Duft deiner Kleider
Ist wie Libanon's Duft.
Ein verschloßener Garten
Bist du, Schwester Braut,
Ein verschloßener Garten,
Ein versiegelter Born!
Deine Pflanzungen sind
Ein Paradies von Granaten,
Nebst der Frucht
Von edlem Obst;

10 b. Cyperblumen
Zusammt mit Narden,
Narde und Krokus,
Kalmus und Zimmet
Nebst all den Bäumen
Die Weihrauch tragen;
Myrrhen und Aloe
Nebst all den köstlichsten
Balsampflanzen;
Ein Gartenquell,
Ein lebendiger Waßerborn,
Dem Libanon entströmend.

10 c. "Erhebe dich, Nordwind,
Und komm doch, o Südwind,
Durchwehe meinen Garten,
Daß ströme sein Balsamduft!
Damit komme mein Geliebter
Zu seinem Garten
Und genießen möge
Sein edles Obst!"
""Ich komme zu meinem Garten,
O Schwester Braut;
Ich pflücke meine Myrrhe
Nebst meinem Balsam.

11 a. Ich genieße mein Scheibchen
Und meinen Honig,
Trinke meinen Wein
Und meine Milch:
Genießet die Freude!
Trinkt euch selig in Liebe!""
 

Fünftes Bild
Kap. 5, 2 - Kap. 6, 3.

Sulamit

Ich war entschlafen,
Doch mein Herz war wach.
Horch, da klopft mein Geliebter:
"Mach mir doch auf,
Meine Schwester, meine Freundin,
Mein Täubchen, meine Beste!

11 b. Denn mein Haupt
Ist voll von Thau,
Und meine Locken
Von Tropfen der Nacht."
""Ich hab ausgezogen mein Kleid
Wie sollt' ich's doch anziehn?
Ich hab gewaschen meine Füße,
Wie sollt' ich sie beschmutzen?""
Mein Geliebter streckte
Die Hand durchs Fenster,
Und mein Innerstes
Wogte ihm entgegen.

11 c. Da stand ich auf
Zu öffnen dem Liebsten,
Und meine Hände
Trieften von Myrrhe,
Und meine Finger
Von quillender Myrrhe.
Da öffnete ich
Meinem Geliebten;
Doch mein Geliebter
War fort, was verschwunden;
Ich war nicht bei Sinnen
Während er sprach.

12 a. Nun sucht' ich ihn
Und fand ihn nicht,
Rief, doch mich hört' er nicht.
Mich fanden die Wächter
Die umhergehn in der Stadt;
Sie schlugen mich wund,
Hoben mir den Schleier auf.
Ich beschwöre euch,
Ihr Töchter Jerusalems:
Wenn ihr findet den Liebsten,
Was wollt' ihr ihm sagen?
Daß ich krank bin vor Liebe!
 

Eine der Hoffrauen

12 b. Was ist dein Liebster mehr, als ein Geliebter,
Du schönste der Frauen?
Was ist er mehr, als ein Geliebter,
Daß du also uns beschwörst?
 

Sulamit

Mein Geliebter ist weiß
Und braunroth,
Herrlich leuchtend
Unter Tausenden.
Sein Haupt ist golden,
Goldglänzend sein Haar,
Die wallenden [Locken]
Sind schwarz wie Raben.

12 c. Seine Augen sind wie Tauben
An Waßerbächen,
In Milch gebadet,
Am Rande sitzend;
Seine Wangen den Balsambeeten,
Thürmen von Gewürzen gleich;
Seine Lippen sind Lilien,
Quell-Myrrhe träufelnd;
Seine Hände sind Goldringe,
Mit Edelsteinen besetzte;
Sein Leib ein Elfenbein-Gebilde,
Bedeckt mit Sapphiren.

13 a. Seine Schenkel
Sind Marmorsäulen,
Die festgegründet
Auf goldenem Fuße.
Anzusehn ist er
Wie der Libanon,
Auserlesen wie Cedern.
Sein Mund ist süß,
Und ganz ist er Anmut:
So ist mein Liebster
Und so mein Freund,
Ihr Töchter Jerusalems!
 

Eine der Hoffrauen

13 b. Wohin gieng dein Liebster,
Du schönste der Frauen?
Wohin wandte sich dein Liebster?
Laß uns suchen ihn mit dir!
 

Sulamit

Mein Liebster gieng zum Garten,
Zu den Balsambeeten,
Um zu weiden in den Gärten
Und Lilien zu pflücken.
Der Liebste ist mein
Und ich bin sein,
Er, der da weidet
Unter den Lilien.

 

Sechstes Bild
Kap. 6, 4 - Kap. 8, 4.
 

13 c. Schön bist du, meine Freundin,
Wie Tirza,
Bist lieblich wie Jerusalem,
Und furchtbar wie Festungsthürme.
Wend' hinweg deine Augen,
Denn sie bringen mich von Sinnen!

Sechzig sind Königinnen
Und achtzig sind Nebenfraun
Und die Jungfraun unzählig;
Doch Eine nur ist mein Täubchen,
Meine Beste!

14 a. Der Mutter ist sie einzig,
Ihr theuer, die sie geboren.
Die Töchter erschauten sie
Und thäten sie loben,
Königs- und Nebenfraun
Haben sie erhoben:
"Wer läßt sich dort sehn
Wie Morgenroth?
So schön - wie der Mond,
So rein wie die Sonne,
So furchtbar wie Festungsthürme?"
 

Sulamit

14 b. Zum Nußgarten
Gieng ich hinab,
Um hier zu sehn
Nach dem Grün des Thals,
Um hier zu sehn
Ob sproße der Weinstock,
Ob Blüten treibt
Der Granatenbaum.
Ich weiß nicht,
Wie's Herz mich führte
Weg von den Schaaren
Meiner Landsleut', der edlen!
 

Sulamits Landsleute

14 c. Komm wieder, komm wieder
O Sulamit!
Komm wieder, komm wieder,
Daß wir dich sehen!
"Was seht ihr denn
An Sulamit?"
Den Reigen gleichsam
Der Engelchöre!
Wie anmutvoll
Sind deine Tritte
In den Sandalen,
Du Tochter eines Edlen!
 

Salomo

15 a. Die Wölbungen deiner Hüfte
Sind wie ein Halsband,
Das gebildet
Von Künstlerhänden.
Dein Schooß ist
Ein runder Becher,
Nicht möge ihm fehlen
Der würzige Wein!
Dein Leib ist
Ein Waizenhügel,
Umsteckt
Mit Lilien.

15 b. Das Haupt steht auf dir
Wie der Karmel
Und das Haar deines Hauptes
Gleicht dem Purpur:
Ein König ist gefangen
In den Locken!
Wie schön und wie hold bist du,
Liebste, voll Liebeslust!
Deine Gestalt
Die gleicht dem Palmbaum,
Und deine Brüste
Den Traubenbeeren.

15 c. Ich wünschte zu steigen
Auf den Palmenbaum,
Und zu erfaßen
Seine Zweige!
Möchte dein Busen doch sein
Wie die Trauben des Weinstocks,
Und der Duft deiner Nase
Dem der Äpfel gleich!
Und dein Mund wie Süßwein,
Der da fließt meiner Liebe,
Ohne Falsch beschleichend
Meine schlummernden Lippen!
 

Sulamit

16 a. Ich gehöre dem Liebsten,
Hab' Sehnsucht nach ihm:
So komm doch, mein Liebster,
Wir wollen aufs Land!
Wir wollen weilen
Bei Cyperblumen!
Wollen früh zu den Weinbergen
Und wollen sehn,
Ob sproße der Weinstock,
Ob sich öffnen die Blüten
Und ob da blühn
Die Granatenbäume!

16 b. Dort will ich geben
Meine Liebe dir!
Die Liebesäpfel
Verbreiten Duft,
Und auf unsern Thüren
Ist allerlei Obst;
Neues, auch altes,
O mein Geliebter,
Spart' ich für dich.
O wärest du
Wie ein Bruder mir!
Ein Säugling meiner Mutter Brust!

16 c. Fänd' ich dich draußen,
Dürft' ich dich küssen,
Und Niemand verhöhnte mich;
Ich würde dich führen,
Würde dich bringen
Zum Haus meiner Mutter;
Du lehrtest mich
Wie ich tränken dich sollte
Vom würzigen Wein,
Vom Granatenmost.
Seine Linke unters Haupt mir!
Und die Rechte umfaße mich!

17 a. Ich beschwöre euch,
Ihr Töchter Jerusalems,
Nicht zu erregen
Noch zu bewegen
Die Liebe,
Bis ihr es gefällt!

 

Siebtes Bild
Kap. 8, 5 - 14.
 

Wer ist sie, die da steigt
Von der Trift herauf,
Und lehnet sich
Auf ihren Geliebten?
 

Sulamit

Unter dem Apfelbaum
Erwarb ich dein Herz:

17 b. Da verlobte dich
Deine Mutter,
Da verlobte dich
Die dich geboren.
Wie den Siegelring leg' mich
An dein Herz,
Wie den Siegelring
An deine Hand!
Denn stark wie der Tod
Ist die Liebe,
Fest wie die Hölle
Hält heiße Minne.

17 c. Ihre Gluten
Sind Feuergluten,
Sind Flammen Gottes.
Gewaltige Waßer
Können nicht löschen
Die Liebesglut;
Nicht Ströme können
Hinweg sie fluten.
Wenn einer böte
All sein Vermögen
Um die Liebe,
Man würd' ihn verhöhnen!
 

Sulamits Brüder

18 a. Wir haben eine Schwester,
Eine kleine,
Noch ohne Brüste;
Was wollen wir machen
Unsrer Schwester,
Wenn man einst um sie wirbt?
"Ist sie wie eine Mauer,
So bauen wir auf sie
Silberne Zinnen;
Doch ist sie wie eine Pforte,
So schließen wir sie ein
Mit Brettern von Cedern!"
 

Sulamit

18 b. Ich bin wie eine Mauer,
Mein Busen gleicht Thürmen:
Da schien ich ihm wie Eine
Die Gnade findet: -
Ein Weinberg kam
In Salomo's Gewalt
Zu Baal-Hamon;
Er gab diesen Weinberg
Den Wachehaltern,
Indem jeder darbot
Für seine Frucht
Eintausend Silberlinge. -

18 c. Der Weinberg, der mein ist,
Der steht vor mir;
Die tausend magst du
O Salomo behalten!
 

Der Geliebte der Sulamit

Die du weilst in den Gärten,
Freundschaft die lauschet
Auf deine Stimme:
O laß sie mich hören!
 

Sulamit

Eile, mein Liebster,
So wie die Gazelle,
Wie das Junge der Hindin
Auf dem Balsamgebirge!


Aus: Das Hohelied
in deutscher Übersetzung, Erklärung
und kritischer Textausgabe
von Ernst Meier
Professor der Morgenländischen Sprachen in Tübingen
Tübingen 1854
Verlag der Buchhandlung zu-Guttenberg


 

 

 

zurück zum Inhaltsverzeichnis