Das Hohe Lied Salomos

In der Nachdichtung von Friedrich Rückert (1788-1866)

 


Wassily Kandinsky (1866-1944)
Improvisation 209

 




Das Hohelied Salomonis

Die Liebende des Hohenliedes:

1. O du, den meine Seele liebet, sage!
Wo weidest du? wo lagerst du
Mit deiner Herde am Mittage?
Damit ich eile deinen Schatten zu!
Was soll ich gleich dem Lamme, dem verirrten,
Umschweifen bei den Herden fremder Hirten?

2. Komm, mein Freund, laß uns hinaus zu freien
Flur, auf Dörfern laß uns übernachten,
Daß wir früh auf in Weinbergen seien,
Sehn, ob Reben neu zu ranken trachten,
Ob Weinblüten auf sich thaten,
Und ob blühen die Granaten;
Dort will ich dir meine Liebe weihen.

3. Ich schlief, mein Herz nur wachte.
O sachte,
Das ist die Stimme meines Freundes, der da klopfet.
"Thu auf, o meine Taube, Freundin, Schwester, Braut!
Mir ist durchtaut
Mein Haupt, mein Haar ist von der Nacht betropfet." -

Ich habe meine Schleier aufgehangen,
Entbunden die Sandalen meinen Sohlen.
Kann sie nicht langen,
Kann sie nicht holen.
Wie soll ich nun
Dem Freund aufthun,
Da er verstohlen kommt gegangen
Zur Nacht, wann alle Städter ruhn? -

Da klopfte, doch geringer,
Noch einmal an sein Finger;
Der süße Trieb ward mein Bezwinger.
Aufstand ich nun
Ihm aufzuthun.

Von der Hand mir troffen,
Wie von Würzgeschirren,
Lautre Myrrhen
Auf der Thüre Schloß hin, wie
Ich die Thür dem Freund that offen.

Und ist nun der Freund nicht hie?
Ist mir schon
Der Freund entflohn?
Bittres Leiden gab es nie.

Mich trieb die Seel', ihm nachzugehn,
Nach meinem Freund umher zu sehn.
Ich sucht' ihn und ich fand ihn nicht;
Ich rief ihn, er empfand mich nicht.

Ich beschwör' euch, Töchter von Jerusalem,
So ihr wollet meinen Dank:
Wenn ihr findet meinen Freund, so saget ihm,
Daß ich bin von Liebe krank.

Aus: Friedrich Rückerts Werke
in sechs Bänden. Hrsg. von Dr. Conrad Beyer
Verlag Max Hesse 1900 Band 1 (S. 364-365)


 

 

 

zurück zum Inhaltsverzeichnis