Wassily Kandinsky
(1866-1944)
Improvisation 209
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Das Hohelied Salomonis
I.
1. Das Lied der Lieder Salomonis
2. Er küssen mich von seines Mundes Küssen!
Dein Kosen ist erhaben über Weingenüssen!
3. An Duft sind deine Oele mild,
Das Oel, so rein, ist Deines Namens Bild,
D'rum dir die Lieb' der Mägdlein gilt!
4. O ziehe mich, ich eil' dir nach!
Mich bracht' der König in sein Prunkgemach!
In dir frohlocken will ich, mich erfreu'n,
An deinem Kosen mehr noch, denn am Wein,
Man darf mit Recht in Liebe dir ergeben sein!
5. Schwarz bin ich, Töchter Salems, doch anmuthig schön,
Den Zelten Kedars gleich, Schelomoh's Teppichen.
6. Seht mich nicht an, denn schwarzgebräunet bin ich,
Gebräunet hat die heiße, glüh'nde Sonne mich!
Es zürnten meiner Mutter Söhn' und grollten mir,
Bestellten mich zur Weinbergshüt'rin wieder jed' Gebühr,
Doch meinen Weinberg war zu hüten, nicht verstattet mir!
7. O sag' es mir, den meine Seele liebt, o sag',
Wo weidest du, wo lässest lagern du am hohen Tag'?
Warum doch sollt' ich der Verhüllten gleichen,
Und schmachvoll zu den Heerden der Genossen schleichen?
8. So du's nicht weißt, o Schönste aller Frauen!
So geh' hinaus, der Schafe Spur zu schauen,
Zu weiden deine Böcklein auf der Hirten Auen!
9. Dem Roß' am Wagen Pharao's, so reich,
Ich dich, o traute Braut, vergleich!
10. In Perlenreihn sind anmuthig deine Wangen,
Dein Hals so reizvoll in der Schnüre Prangen!
11. Wir wollen Ketten fertigen vom reinsten Golde,
Mit Silberpunkten fein durchwirkt, für dich, o Holde!
12. Bis hin, wo weilt des Königs Hofgepränge,
Vertheilet meine Narde ihrer Düfte Menge!
13. Ein Myrrhensträußlein ist mein Freund;
Am Busen weilend, er sich mir vereint!
14. Der Cyperntraube ist mein Trauter gleich,
Zu finden in Engedi's Rebenbergbereich!
15. Wie schön du bist, o Freundin meiner Seele,
Und deine Augen - Täubchen - sonder Fehle!
16. Wie schön du bist und hold, an dem so meine Seele hangt,
D'rum unser Lager auch in Frische grünt und prangt!
17. Von Zedern uns'rer Häuser Balken sind gemacht,
Und von Cypressen des Getäfels Pracht!
II.
1. Ich bin der Lilie Scharon's gleich,
Der Rose in des Thales duft'gem Reich!
2. Gleichwie die Rose unter Dornen schön,
Bist Liebchen unter Töchtern du zu seh'n!
3. Gleichwie der Apfelbaum in dürr'n Gehölzes Wald,
Ragt unter Jünglingen meines Freund's Gestalt!
Ich saß in seinem Schatten, Sehnen in der Brust,
Und seine Frucht ist meinem Gaumen süße Lust!
4. Er hatte nach dem Haus' des Weines mich geführt,
Als Fahne über mich die Lieb' er kürt!
5. O stärket mich mit Rebensaft,
O reicht mir dar des Mostes Kraft!
Denn liebeskrank bin ich und ganz erschlafft!
6. O wenn doch seine Link' mir unter's Haupt er brächte,
O, daß mich mit der Rechten er umarmen möchte!
7. O Töchter Salems, binden muß ich Euch durch heil'gen Schwur,
Bei all' den Hirschen, all' den Hindinnen der freien Flur;
Auf daß ihr früh'r nicht weckt und regt in mir die Triebe,
Als bis von selber stürmet an die Liebe!
8. Die Stimme meines Freund's, da kommt er, sieh!
Er springet über Berge, über Hügel sonder Müh'!
9. Es gleicht mein Freund den Hirschen und den jungen Rehen,
Seht hinter uns'rer Wand ihn stehen!
Er lugt durch's Fenster mit erwartungsvollem Sehnen,
Durch's Gitter schaut er aus nach mir, der Herzensschönen!
10. Mein Trauter, der beginnt nunmehr zu sprechen:
Auf Freundin, Schönste, komm! Zeit ist es aufzubrechen!
11. Der Winter ist bereits vorüber jetzt,
Der Regen ist dahin und seines Amts entsetzt!
12. Die Blüthen sieht man an dem Boden,
Die Zeit des Sang's ist da, die Zeit der Oden,
Die Stimm' der Turteltaub' hört man im Land anjetzt!
13. Die Feige hat bereits gewürzet ihre Frucht,
Die Reben blühen und entsenden ihren Duft,
Auf, Freundin, komm herbei in rascher, eil'ger Flucht!
14. In hoher Felsen Rissen, in der Kluft der Steige,
Dein schön' Gesicht, o Täubchen mir doch zeige!
Laß' deine süße Stimme mich dort hören,
Da beid' zusammen deine holde Anmuth lehren!
15. So fahet uns die Füchse, fah't die Füchse klein,
Denn sie zerstören Rebenberg' und schädigen den Wein!
Und uns'res Weinberg's Blüthen freundlich laden ein!
16. Mein Freund ist mein und ich die seine auch,
Zu weiden unter Rosen ist sein Brauch!
17. Bevor der Tag noch wehet und die Schatten flieh'n,
Da soll es hin zu mir dich mächtig wieder zieh'n,
Wie Hirsche, Rehe eilend über Berge hin!
III.
1. Auf meinem bangen Lager in der Nacht
Sehnt' ich den Freund herbei, mein Auge wacht',
Ich fand ihn nicht, - ich ward um ihn gebracht!
2. Ich will nun aufsteh'n und umhergeh'n in der Stadt,
In allen Straßen, sonst noch, wo es Plätze hat!
Ich will ihn suchen, meiner Seele Licht,
Ich suchte - doch vergebens, denn ich fand ihn nicht!
3. Die Wächter trafen mich, die die Stadt durchzieh'n,
Den Freund, den ich so liebe, sah't ihr ihn?
4. Kaum war ich fort, da traf ich meiner Seele licht,
Ich hielt ihn fest, ließ eher los ihn nicht,
Als bis in's Haus der Mutter ich ihn brachte,
Und in's Gemach, wo einst mich die Gebährerin bewachte!
5. O Töchter Salems, binden muß ich euch durch heil'gen Schwur,
Bei all' den Hirschen, all' den Hindinnen der Flur,
Auf daß ihr früh'r nicht weckt und regt in mir die Triebe
Als bis von selber stürmet an, die Liebe!
6. Wer ist wohl jene dort, die von der Wüst' aufsteiget,
Die wie 'ne Säule dichten Rauches sich uns zeiget?
Mit Balsammyrrhe- und Weihrauchduft erfüllt,
Der reichlicher denn vom Gewürz' des Krämers quillt!
7. Es ist Schelomoh's Sänfte, die getreu umringt,
Von sechzig Helden ist, die wol kein Feind bezwingt,
Als tapf're Helden Israels man sie besingt!
8. Sie all' sind kriegsgelehrt und in der Rüstung stecken,
Zur Hut und Wacht bestimmet ob der Nächte Schrecken!
9. Die Sänft' so schön, so herrlich stolz,
Ließ fertigen Schelomoh vom echten Zedernholz!
10. Die Säulen strotzen von des Silbers Glanz,
Die Decke d'rüber ist von Golde ganz!
Der Sitz, der ist mit Purpur reich geschmückt,
D'rauf man das strahlend' Aug' der Braut erblickt!
11. O geht hinaus, ihr Töchter Zions, seh't,
Den König Salomo, wie ihm die Krone steht.
Mit der die Mutter an der Hochzeit frohem Tag'
Bekränzet ihn, auf daß sein Herz sich freuen mag!
IV.
1. Wie schön du bist, o Freundin meiner Seele,
Und deine Augen - Täubchen - sonder Fehle,
Umhüllet von der Locken reichem Kranz!
Wie gleicht dein Haar der Ziegenheerd' so ganz!
Herniederhangend' von dem Gilead in Glanz!
2. Geschor'nen Lämmern deine Zähne gleichen,
Die eben aus der Schwemm' erst steigen!
Sie alle zwillingsträchtig durchweg sind,
Man keine fehlgebährend unter ihnen find't!
3. Es gleichen deine Lippen Purpurfäden,
Und süß und sanft sind deines Mundes Reden!
Wie der Granate Hälfte deine Wang'
Man schauet durch des Schleiers leichten Zwang!
4. Wie David's Thurm dein schöner Hals sich hebt,
Der Thurm, der sich zur Waffenburg erhebt,
Daran die Schilder, Köcher sonder Zahl,
Die Harnische der Helden hängen allzumal!
5. Es gleichen deine Brüste zweien Rehen,
Der Hindin Zwillingen, die unter Rosen gehen!
6. Ich will, bis sich der Tag gekühlt und Schatten flieh'n,
Zum Berg' der Myrrhen hin sehnsüchtig zieh'n,
Und in das Thal, wo Weihrauchstauden blüh'n!
7. Wie bist du, meine Schäf'rin, so vollendet schön,
Kein Makel, keine Fehle ist an dir zu seh'n!
8. Vom Libanon, o Braut, o Fromme,
Mit mir vom Libanon, o komm, komme!
O schau hernieder von Amanah's Spitze,
Und von des Snir's und Hermons höchstem Sitze,
Dort oben her, wo muth'ge Leuen thronen,
Und von den Bergen, wo die Pardel wohnen!
9. Du hast mein Herz erobert, Schwester, Braut!
Als kaum mit einem Aug' noch du mich angeschaut,
Mit deinem Schmucke, der am Hals dir blinkt so traut!
10. O Braut und Schwester, deine Lieb', wie ist sie rein,
Dein Kosen ist erhaben über Wein,
Und deiner Oele Duft, mehr denn Gewürze fein!
11. Auf deinen Lippen Seim des Honigs sprießet,
Und deine Zung' von Milch und Honig überfließet,
Es duftet dein Gewand entgegen mir so wonnig,
Wie Düfte auf den Höh'n des Libanon, so sonnig!
12. Ein festverschloss'ner Garten bist du, meine Braut,
Ein wohlverwahrter Brunnen, dem man fest vertraut,
Versiegelt ist dein Quell, auf dich man sicher baut!
13. Es gleichen deine Sprößling' dem Granatengarten,
Von süßen Früchten voll, voll von Kapern, Narden!
14. Von Narden voll und voll von Safran, Zimmet, Rohr
Von Weihrauch, Aloe und Myrrh' - ein duft'ger Flor -!
15. Du gleichest dem lebend'gen Brunnen und dem Quell,
Dem Libanon entrieselnd klar und hell!
16. Erwache Nord, o Südwind komm', nicht säume,
Durchwehet meines Gartens liebe Räume!
Daß seiner Würze Duft in Fülle ströme,
Und er hinein, um Früchte zu genießen, käme!
V.
1. Ich kam o Schwester, Braut, in meinen Garten,
Ich brach die Myrrh' und Würz', reich über mein Erwarten,
Ich aß den Seim und Honig, trank auch Milch und Wein,
Eßt mit, Genossen, trinket, schenkt immer wieder ein!
2. Ich schlief, allein mein Herz, es wacht',
Die Stimme meines Freunds - er klopfte sacht,
O öffne mir doch, Schwester, Unschuld, Schäf'rin,
Denn voller Thau mein Haupt ist, süße Schläf'rin,
Und meine Locken feucht von Tropfen dieser Nacht!
3. Bin ich doch der Gewandung baar, wie sollt' ich an sie legen?
Gebadet sind die Füß', nun sie besudeln deinetwegen?
4. Kaum hatt' durch's Gitter er gestrecket seine Hand,
Als meine Lieb' für ihn vom Neuen ward' entbrannt!
5. Ich stand jetzt auf, zu öffnen ihm die Thür,
Es troffen meine Hände von der duft'gen Myrrh'
Und über meine Finger reich der Balsam lief,
Er troff und floß hernieder auf des Riegels Griff.
6. Kaum hatte ich dem Freunde aufgeschlossen,
Da war er fort, nicht sah ich den Genossen!
Mein Geist entsank, als sich sein Wort ergossen!
Jetzt sucht' ich ihn, doch konnt' ich ihn nicht finden,
Ich rief, doch des Geliebten Lippen keine Antwort künden!
7. Es trafen mich die Wächter, die umziehn in der Stadt,
Sie schlugen wund mich, machten müde mich und matt,
Der Mauer Hüter nahmen mir den Schleier ab, der mich verhüllet hatt'.
8. O Töchter Salems, feierlich beschwör' ich euch!
So ihr ihn findet, meinen Freund, so anmuthreich,
Was werdet sagen ihr, wenn er neugierig frägt?
Daß liebeskrank für ihn mein Herze schlägt!
9. Was macht dir einen Freund vor jedem andern werth,
Daß uns die schönste Frau so hoch um ihn beschwört?
10. Mein Freund und mein Geliebter, der ist roth und weiß
Von Myriaden ihm geziemt der höchste Preis!
11. Sein Haupt ist fein gediegen Gold,
Sein Haar so lieblich kraus gerollt,
Ganz rabenschwarz ich's nennen wollt'!
12. Wie sanfte Täubchen an den Wasserbächen,
So seine Augen uns ganz wunderbar ansprechen!
In Milch gebadet weich und zart sie blicken,
Und eingefasset sind sie ganz lieblich, zum Entzücken!
13. Gewürzesbeet' sind seine Wangen,
Gleich Thürmchen voll der Specerei'n sie prangen!
Wie Rosen seine Lippen sind, die süßen,
Die von dem Myrrhenbalsam überfließen!
14. Und seine Händ' sind Goldcylindern gleich,
Besetzt mit Chrysoliten reich,
Sein Leib ein Schaft von Elfenbein
Gehüllet in Saphire ein.
15. Es gleichen seine Schenkel Marmorsäulen,
Auf gold'nem Fußgestell sie ruhend weilen!
Sein Ausseh'n ist wie das des Libanon so schön,
Wie das der Zeder, zu 'nem Prachtbau auserseh'n!
16. Sein Gaumen ist ganz voller Süßigkeit,
Und er ganz Reize, voller Lieblichkeit,
Dies ist mein Freund! In dieses Bild gedränget
Erblickt ihn Töchter Salems, dem meine Seel' anhänget!
VI.
1. Wohin begab dein Freund sich, Schönste aller Frauen,
Wohin nur wandt' er sich, daß wir nach ihm ausschauen!
2. Mein Freund ging in den Garten, seine Heerd' zu weiden,
Um Rosen einzusammeln lieblich und bescheiden!
3. Ich bin des Freund's und er der meine auch,
Zu weiden unter Rosen, ist sein Brauch!
4. Wie Thirzah stattlich bist du, wie Salem anmuthreich!
O Freundin, doch auch drohend, Siegesschaaren gleich.
5. O wende ab von mir des Auges Blick und Glut,
Es schwellet über alle Maßen mir den Muth!
Wie gleicht dein Haar der Ziegenheerd' so ganz,
Herniederhangend von dem Gilead in Glanz!
6. Geschor'nen Lämmern deine Zähne gleichen,
Die eben aus der Schwämm' empor erst steigen!
Sie alle zwillingsträchtig durchweg sind,
Man keine fehlgebährend unter ihnen findt'!
7. Wie der Granate Hälft' ist deine Wang'
Zu schauen durch des Schleiers leichten Zwang!
8. Ich hab' an sechzig wol der Königinnen,
An achtzig Weiber noch zum Scherzen, Minnen
Und Mädchen ohne Zahl, die Liebe sinnen!
9. Doch einzig ist mein Täubchen, meine Unschuld,
Der Mutter einzig ist sie, voll von Lieb und Huld,
Im Elternhause lauter, voll weiblicher Geduld
Es preisen sie die Töchter alle, die sie schauen,
Es rühmen sie die Königinnen und unzähl'ge Frauen!
10. Wer ist sie dort, die gleich dem Morgensterne blicket,
Wie sanftes Mondlicht unser Aug' entzücket?
So lauter wie der Sonne Glanz, so hell und rein,
Wie Siegerschaar so drohend, wer mag's sein?
11. Ich pflegte zu begeben mich in der Nüsse Hain,
Die Frücht' zu sehen, lenkte in das Thal ich ein!
Ob schon der Weinstock grünet, wollt' ich wissen,
Ob an Granaten schon die Knospen sprießen!
12. Ich wußt' es nicht, d'rum meine Seel' es hat verschuldet,
Daß ich als Wagen nur für Völkerfürsten bin geduldet!
VII.
1. O Sulamit, kehr' um, o kehr zurück,
Auf daß wir auf dich lenken unsern Blick!
Doch welchen Anblick wird euch Sulamit verleih'n?
Wir werden sie erblicken wie den Tanz von Doppenreih'n!
2. Wie sind doch deine Füße, Fürstentochter, schön,
In zierliche Sandalen geschnüret anzuseh'n!
Es gleichet deiner Hüfte Bau und Pracht,
Dem goldenen Geschmeid', von Künstlerhand gemacht!
3. Dein Nabel ist dem runden Becher gleich,
Dem nie an Wein es fehlt, an edler Mischung reich!
Dein Leib, der gleicht der Garbe Weizen
Umkränzet von der Rosen holden Reizen!
4. Es sind gleich deine Brüste zweien Rehen,
Der Hindin Zwillingen, die unter Rosen gehen!
5. Dein Hals ist wie ein Thurm von Elfenbein,
Es gleichen deine Augen Chesbons Teichen hell und rein,
Die an den Thoren von Bat Rabbim laden ein!
Dem Thurm des Libanon gleicht deine Nas' o Braut,
Dem Thurm', der weit bis gen Damaskus schaut!
6. Dein Haupt, es stehet dir dem Karmel gleich!
Wie Purpur ist dein Lockenhaar so sanft, so weich,
Wie Königspurpur an den Bund geschlungen reich!
7. Wie bist du lieblich und wie bist du schön,
O Lieb' in den Genüssen, die aus dir ersteh'n!
8. Der Palm' dein schöner Wuchs ist gleich
Und deine Brüst' den Trauben, säftereich!
9. Ich sprach: Die Palme will ich doch ersteigen,
Festhalten will ich mich an den Aesten, Zweigen,
Es seien deine Brüst' den Trauben gleich,
Und deines Odems Düfte, wie Orangendüft' so reich!
10. Und möcht' dein Gaum den edlen Weinen gleichen,
Die dem Geliebten sanft hinunter schleichen!
Und auf der Lipp' der Schlafenden die Red' erzeugen!
11. Ich bin nun meines Freund's, an ihm die Seele hangt,
Und seine Seele auch nach mir nur schmachtet, bangt!
12. O, komm, Geliebter, laß auf's Feld uns gehen,
Laß uns in Dörfern weilen, von uns ausersehen!
13. Laß frühe nach dem Weinberg uns schon gehen
Um, ob der Weinstock grünt, zu sehen,
Und ob die Blüthen sich bereits erschließen,
Auch ob schon Knospen an Granaten sprießen,
Dort lege meine Lieb' ich dir, o Freund, zu Füßen!
14. Die Luft der Wohlgerüch' Dudaim uns gewähren
An unseren Thüren sich die Früchte alle mehren,
Im lieblichen Gemisch', die neuen und die alten,
Die ich dir aufbewahrt, in meiner Liebe Walten!
VIII.
1. O wärst du doch als Bruder mit mir großgezogen,
O hättest meiner Mutter Brüste du gesogen!
Ich fänd dich auf der Straß', dürft' küssen dich ganz frei
Und keinen Spott erwarten und keine Neckerei!
2. Ich führt' und brächte dich in meiner Mutter Haus,
Du unterwiesest mich und ich bereitete den Schmaus,
Von an Gewürzen reichem edlem Wein,
Und von Granatenmost, der beste müßt' es sein!
3. Die Linke unter's Haupt der Freund mir liebend legt,
Mit seiner Rechten mich in seinem Arm er trägt!
4. O Töchter Salems - ich beschwöre euch - nicht eher weckt die Triebe,
Als bis in mir von selber stürmet an die Liebe!
5. Wer ist sie, die herauf dort aus der Wüste kommt,
An den sich schmiegend, dem nur ihre Liebe frommt?
Ich weckte unter'm Apfelbaume dich, den ich erkoren,
Wo meine Mutter dich mit Wehen einst geboren,
Wo sie sich dein entwand in Schmerz verloren!
6. Gleichwie ein Siegel auf dein Herz, so liebewarm,
Wie einen Siegelring, o leg' mich an den Arm!
Denn wie der Tod so mächtig ist die Lieb' fürwahr,
Die Eifersucht so unerbittlich, wie die Grube gar,
Und ihre Glut ist Feuerglut, ist Gottesflamm' fürwahr.
7. Gewaltige Gewässer, die Lieb' zu löschen nicht vermögen,
Fortspült sie nicht der Strom, der braust noch so verwegen,
Und wollt' um Liebe selbst ein Mann uns geben
Des ganzen Hauses Gut, - er würd' nur Spott erleben!
8. Wir haben eine Schwester, klein und jung,
Ihr fehlet noch der Brüste Zier und Prunk!
Was halten wir für diese Schwester wol bereit,
Am Tage, wo man um sie wirbt und freit?
9. Ist wie 'ne Mauer sie so stark und fest,
So bauen wir auf ihr gar silberne Paläst'!
Ist sie so leicht und schwach wie eine Thür,
So schließen wir durch Zederntafeln ein sie - nach Gebühr!
10. Wie eine Mauer bin ich schwer zu stürmen,
Und meine beiden Brüste sind gleich Thürmen!
Da ward von ihm ich liebewerth befunden,
Als eine, die im Haus' den Frieden hat gefunden!
11. Es hatte einen Weinberg Salomo in Baal Hamon,
Den er zur Pfleg' an Hüter gab für Lohn,
Begehrend, daß von ihnen jeder bringe,
Für Früchte, die gewonnen, tausend Silberlinge!
12. Ich hüte meinen Weinberg selber mir,
Die tausend Silberling', o Salomo, behalte dir!
Zweihundert zahl' ich noch den Hütern - als Gebühr! -
13. O Liebe, die du weilest in dem Garten,
- Die Freunde deiner Stimme lauschend warten! -
O lasse deine Stimme hören, der wir harrten!
14. O flieh, mein Liebster, eile gleich
Dem Hirsche und dem jungen Reh', o fleuch
Auf die Gebirge, an Gewürzen reich!
übersetzt von Hermann Tietz (1834-1908)
Aus: Das Hohelied
metrisch übersetzt und
mit Anmerkungen nach dem Midrasch versehen
von Hermann Tietz
Im Selbstverlage des Verfassers
Berlin 1870
Commissions-Verlag von M. Poppelauer's Buchhandlung
61. Neue Friedrichs-Straße 61
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