Das Hohe Lied Salomos

In der Übertragung von Johann Emanuel Veith (1878)

 


Wassily Kandinsky (1866-1944)
Improvisation 209

 




Das Hohelied Salomonis


Erstes Gesangsstück
Kap. I. Vers 1 bis 8.
Sulamith im Speisesaale der Palastfrauen

Vers 2.
Eine Stimme
Er küsse mich mit Küssen seines Mundes,
Chor
Denn lieblicher als Wein ist seine Minne.

Vers 3.
Eine Stimme
Erquicklich dem Geruch sind deine Salben,
Dein Name ausgegossnes Salböl;
Chor
Jungfrauen auch darum dich lieben.

Vers 4.
Eine Stimme
Zieh' mich zu dir,
Chor
Wir sind bereit dir nachzueilen.
Eine Stimme
Wenn in das Innere seiner Gemächer
Der König mich geführt,
Chor
So werden wir frohlocken,
In dir uns erfreuen,
Und deine Minne preisen mehr den Wein.
Eine Stimme
Aufrichtig haben sie dich lieb.

Vers 5.
Sulamith
Schwarz bin ich, dennoch schön,
Ihr Töchter Jerusalems,
Gleichwie die Teppiche (im Hause)
Salomo's.

Vers 6.
Seht mich darum nicht (verächtlich) an,
Daß ich so schwärzlich bin,
Weil angeglüht ich worden von der Sonne.
Die Söhne meiner Mutter haben mir gezürnt
Und mich zur Weinberg-Hüterin bestellt,
Meinen eigenen Weinberg hab' ich nicht gehütet.

Vers 7.
O thu' mir kund, den meine Seele liebt,
Wo weidest du,
Wo lässest du Mittags (die Heerde) lagern,
Denn weßhalb sollte ich
Gleich einer (irrenden) Vermummten
Erscheinen bei den Heerden deiner Genossen.

Vers 8.
Eine Stimme
Wenn es dir nicht bewußt,
Du Schönste der Frauen,
Wohlan, so wandre
Den Spuren der Heerde nach,
Und weide deine Zicklein
Dort in der Nähe der Hirtengezelte.


Zweites Gesangsstück
Kap. I. Vers 9 bis 17. Kap. II. Vers 1 bis 7.
Sulamith und Salomo

Vers 9.
Salomo
Der edlen Rosse eines
An Pharao's Gespann
Vergleich' ich, meine Freundin, dich.

Vers 10.
Wie zierlich in den goldnen Kettchen
Sind deine Schläfen, deine Wangen,
Dein Hals im Schmuck der Perlenschnur!

Vers 11.
Wir werden solche Kettchen
Von Gold dir machen lassen,
Von Gold mit Punkten reinen Silbers.

Vers 12.
Sulamith
So lang' bei seiner Tafel
Der König weilte,
Hat meine Narde ihren Duft gegeben.

Vers 13.
Ein Myrrhenbüschlein
Ist mein Geliebter mir,
Das in den Nächten auch
An meiner Brust verwahrt bleibt.

Vers 14.
Ein Blumenzweig des Cyperstrauchs
Ist mein Geliebter mir,
Von Weingeländen in Engadi.

Vers 15.
Salomo
Siehe, meine Freundin, du bist schön,
Ja wahrlich schön bist du,
Und deine Augen gleich den Tauben.

Vers 16.
Sulamith
O siehe, schön bist du
Und überaus holdselig, mein Geliebter!
Ein üppig Grün ist unser Ruheplatz,

Vers 17.
Von Cedern das Gebälke unsres Hauses,
Und das Getäfel von Cypressen.

Kap. II. Vers 1.
Nur eine Wiesenblume bin ich
Aus Saron, eine Lilie der Thäler.

Vers 2.
Salomo
Wie eine Lilie in der Dornen Mitte,
So meine Freundin inmitten der Töchter.

Vers 3.
Sulamith
Gleichwie der Apfelbaum
Inmitten der Bäume des Waldes,
So mein Geliebter inmitten der Söhne.
In seinem Schatten mich zu setzen
War mein Verlangen,
Und seine Frucht ist meinem Gaumen süß.

Vers 4.
Ins Haus des Weines
Hat er mich eingeführt,
Und sein Panier, das schirmend
Sich breitet über mir, ist Liebe.

Vers 5.
O kommt zu Hilfe mir,
Bringt Trauben mir zur Stärkung,
Erquicket mich mit Aepfelduft,
Denn ich bin krank vor Liebe.

Vers 6.
Er unterstützt mein Haupt mit seiner Linken,
Mit seiner Rechten hält er mich umschlungen.

Vers 7.
Ihr Töchter Jerusalems,
Bei den Gazellen und Hindinnen
des Feldes
Beschwör' ich euch,
Daß ihr nicht aufweckt
Und nicht verstört die Liebe,
Bis daß es ihr gefällt.


Drittes Gesangsstück
Kap. II. Vers 8 bis 17.
Sulamith daheim von Salomo besucht

Vers 8.
Sulamith
Horch, mein Geliebter!
Siehe, da kommt er,
Springt einher über die Berge,
Hüpft in Eile über die Hügel;

Vers 9.
Einer Gazelle gleich mein Geliebter,
Einem Jungen der Hirsche,
Siehe, schon steht er
Hinter unserem Gemäuer,
Späht durch die Fenster,
Blickt durch das Gitter.

Vers 10.
Mein Geliebter beginnt und ruft mir zu:
Mache doch auf, meine Freundin,
Meine Schöne, und gehe hervor,

Vers 11.
Denn siehe, der Winter ist vergangen,
Der Regen vorüber, die Wolke dahin geschwunden.

Vers 12.
Schon werden die Blumen sichtbar im Lande,
Die Zeit der Gesanges ist da,
Die Stimme der Turteltaube
Läßt wieder hören sich in diesem Lande,

Vers 13.
Der Feigenbaum beginnt
Zu würzen seine Früchte,
Die Weingelände stehn in Blüthe
Und hauchen ihren Duft,
Mach' dich auf, meine Freundin, meine Schöne,
Und trete hervor!

Vers 14.
Du meine Taube im Geklüft des Steins
Und im Versteck der Felsensteige.
Lasse mich schauen dein Angesicht,
Lasse mich hören deine Stimme;
Denn deine Stimme ist süß,
Und schön dein holdes Angesicht.

Vers 15.
(Ich trat hinaus und sang:)
Fanget mir die Füchse,
Die kleinen Füchse,
Die Weinbergverderber,
Zumal nun unsre Weinberge
In voller Blüthe stehn.

Vers 16.
(Denn) mein Geliebter ist mein,
Und ich bin sein,
Der unter Lilien weidet.

Vers 17.
Bis der Tag sich kühlt,
Bis die Schatten fliehen,
Spute dich, mein Geliebter,
Und streife umher
Wie eine Gazelle,
Wie ein Junges der Hirsche
Auf zerklüfteten Bergen.


Viertes Gesangsstück
Kap. III. Vers 1 bis 5.
Sulamith's Traum

Vers 1.
Auf meinem Lager ruhend in den Nächten
War mir, als ob ich suchte den Geliebten,
Ich suchte ihn und fand ihn nicht.

Vers 2.
So will ich aufstehn und
Die Stadt durchwandern,
Die Märkte und die Straßen,
Zu suchen ihn, den meine Seele liebt,
ich suchte ihn und fand ihn nicht.

Vers 3.
Es fanden mich die Wächter,
Die in der Stadt umher gehn;
Habt ihr, den meine Seele liebt, gesehn?

Vers 4.
Kaum war von ihnen weiter ich gegangen,
Da fand schon, den meine Seele liebt.
Ich faßte ihn und ließ ihn nicht,
Bis daß ich ihn gebracht
In meiner Mutter Wohnhaus
Und in die Kammer meiner Gebärerin.

Vers 5.
Ich beschwöre euch,
Ihr Töchter Jerusalems!
Bei den Gazellen und Hindinnen des Feldes,
Daß ihr nicht aufweckt
Und nicht aufstört die Liebe,
Bis daß es ihr gefällt.


Fünftes Gesangsstück
Kap. III Vers 6 bis 10.
Sulamiths Einzug und Vermählungsfeier

Vers 6.
Das Volk
Wer ist diese,
Die dort heraufkommt aus der Wüste,
Umschwebt von Weihrauchsäulen,
Umräuchert von Olibanum und Myrrhen
Und all' den Specereien der Krämer?

Vers 7.
Andere
Siehe, da nahet schon
Das Tragbett Salomo's;
Rings um dasselbe sechzig Helden
Aus der Schaar der Tapfern Israels,

Vers 8.
Alle mit dem Schwert gegürtet,
Im Kriegswerk erprobt.
Es trägt an seiner Hüfte
Ein Jeglicher das Schwert
Zur Abwehr gegen Schrecknisse der Nächte.

Vers 9.
Eine Stimme
Ein Brautbett ließ sich König Salomo
Anfertigen aus Gehölz vom Libanon,

Vers 10.
Die Säulen des Fußgestells von Silber,
Die Lehne von Gold,
Die Pfühle von Purpur;
Das Innere ward ausgeschmückt
Mit reicher Zierde durch die Liebe
Der Töchter Jerusalem.

Vers 11.
Das Volk
Kommt heraus und schaut euch an,
Ihr Töchter Sion's,
Den König Salomo im Kranze,
Mit welchem seine Mutter ihn gekrönt
Am Tage der Vermählung,
Am Tag' der Freude seines Herzens.


Sechstes Gesangsstück
Kap. IV. Vers 1 bis 8.
Sulamith sittlich verklärte Schönheit

Vers 1.
Salomo
Siehe, du bist schön, meine Freundin,
Ja wahrlich, schön bist du,
Wie Tauben hinter deinem Schleier
Dein Augenpaar;
Dein Haar eine Heerde Ziegen,
Die abwärts lagern am Gileadsgebirg.

Vers 2.
Die Reihen deiner Zähne gleich den Schafen,
Den Schafen, welche nach der Schur
Aufsteigen aus der Schwemme,
Zwillinge tragend insgesammt,
Kein unfruchtbares unter ihnen.

Vers 3.
Gleich einem Purpurstreif sind deine Lippen,
Und voll der Anmuth ist dein Mund,
Und wie ein Ausschnitt der Granatfrucht,
So blicken deine Wangen durch den Schleier.

Vers 4.
Dein Hals ist wie der Davidsthurm
In Stufen aufgebaut,
Woran die tausend Schilder hangen,
Schutzwehren allzumal der Helden.

Vers 5.
Den jungen Rehen gleich sind deine Brüste,
Den Zwillingen von Gazellen,
Die unter Lilien weiden.

Vers 6.
Sulamith
Bis der Tag sich kühlt,
Bis die Schatten fliehn,
Will von hier ich fort gehn
Zu den Myrrhenbergen,
Zu den Hügeln,
Die mit dem Balsamstrauch bepflanzt.

Vers 7.
Salomo
Vollkommen schön
Bist du,
Vollkommen, meine Freundin,
bist du schön,
Und keine Makel ist an dir.

Vers 8.
Mit mir, o Braut vom Libanon,
Sollst du hernieder wandern,
Sollst schauen von dem Gipfel des Amana,
Und von den Gipfeln auch
des Senir und des Hermon,
Von Höhlen, wo die Löwen lagern,
Und von den Bergen, die
Der Leoparden Heimat.


Siebentes Gesangsstück
Kap.  IV. Vers 9 bis 16.
Sulamith im Garten des Palastes

Vers 9.
Salomo
Du hast mein Herz bewältigt,
O Schwester, meine Braut,
Du hast mein Herz getroffen
Mit einem deiner Blicke,
Mit einem Kettlein deines Halsschmucks.

Vers 10.
Wie schön ist deine Minne,
Du meine Schwester Braut,
Viel köstlicher als Wein
Ist deine Minne,
Köstlicher und süßer deiner Salben Duft,
Als jegliche Arome.

Vers 11.
Des Honigs Süße träuft von deinen Lippen,
Honig und Milch sind unter deiner Zunge
Und deiner Gewande Duft
Gleicht dem des Libanon

Vers 12.
Ein wohlverschlossner Garten
Ist meine Schwester Braut,
Ein ringsverschlossner Garten,
Ein streng versiegelter Quell.

Vers 13.
Was diesem Garten entsproßt,
Ist eine Pflanzung des Granatbaums,
Nebst köstlichen Früchten
Sammt Cyperblumen und Narden,

Vers 14.
Crocus und Narden, Calamus und Zimmt,
Sammt mancherlei Balsambäumen,
Olibanum, Myrrhen und Aloe
Und jeglichem edlen Gewürz,

Vers 15.
Ein Brunnen lebendigen Wassers
Aus Gießbächen vom Libanon.

Vers 16.
Sulamith
Wach' auf Nord
Und komme heran, Süd,
Durchwehet meinen Garten,
Auf daß entströme sein Balsamduft.
Es möge kommen dann
In seinen Garten mein Geliebter,
Und sich der Frucht erfreuen,
die ihm köstlich.


Achtes Gesangsstück
Kap. V. Vers 1.
Salomo's Morgengruß und Hochzeitsmahl

Vers 1.
Salomo
Gekommen bin ich, meine Schwester Braut,
In meinem Garten,
Ich habe meine Myrrhe gepflückt,
Sammt meinem Balsam,
Genossen meine Wabe
Sammt meinem Honigseim,
Getrunken meinen Wein
Sammt meiner Milch
(Bei der Hochzeitstafel)
Esset, trinket und berauscht euch
Meine geliebten Freunde!


Neuntes Gesangsstück
Kap. V. Vers 2 bis 7.
Sulamith's düsteres Traumbild

Vers 2.
Ich schlafe, doch wacht mein Herz,
Horch, da pocht mein Lieber,
O öffne mir (so ruft er), meine Schwester,
Meine Freundin,
Meine Taube, meine Fromme,
Denn benetzt ist vom Thau mein Haupt,
Und durchnäßt sind meine Locken
Durch die Feuchtigkeit der Nacht.

Vers 3.
(Ich jedoch erwiderte:)
Ausgezogen hab' ich mein Gewand,
Und wie sollt' ich wieder es anziehn?
Habe gewaschen meine Füße,
Sollt' ich etwa sie wieder beschmutzen?

Vers 4.
Durch die Fensterlücke
Zwänge mein Lieber seine Hand,
Und vom tiefen Mitleid
Ward mein Innerstes erschüttert.

Vers 5.
Auf stand ich eilig,
Um zu öffnen meinem Lieben,
Meine Hände troffen von Myrrhe,
Die herabfloß auf meine Finger
Von dem Griffe des Riegels.

Vers 6.
Auf that ich meinem Lieben,
Doch er hatte sich gewendet
Und war weiter gegangen.
Meine Seele war entflohen,
Als er redete zu mir.
Nun erst suchte ich ihn
Und fand ihn nicht;
Ich rief,
Doch vernahm ich keine Antwort.

Vers 7.
Es fanden mich die Wächter,
Die in der Stadt umhergehn,
Sie schlugen mich, verwundeten mich.
Sie rissen mein Obergewand mir ab,
Die Wächter der Mauern.


Zehntes Gesangsstück
Kap. V. Vers 8 bis 16. Kap. VI. Vers 1 bis 3.
Des Traumes Wendung und Erwachen

Vers 8.
Ich beschwöre euch,
Ihr Töchter Jerusalem,
So fern ihr findet meinen Lieben,
Was sollt' ich ihm sagen?
Daß krank ich bin vor Liebe.

Vers 9.
(Sie aber fragten mich:)
Was ist dein Geliebter vor Andern,
Du Schönste der Frauen,
Was ist dein Lieber vor Andern,
Daß du so eifrig uns beschwörst?

Vers 10.
(Und sie erwiderte:)
Mein Lieber ist glänzend weiß und roth,
Hervorragend aus Zehntausenden.

Vers 11.
Sein Haar das reinste Gold,
Sein Lockenhaar gleich einer Hügelkette,
Herniederwallend rabenschwarz.

Vers 12.
Wie Tauben am Rand der Wasserbäche
Sind seine Augen,
Wie gebadet in Milch,
Wie Edelsteine in zierlicher Fassung.

Vers 13.
Gleich einem Gartenbeet,
Bepflanzt mit würzigen Kräutern,
Sind seine Wangen,
Anhöhen von balsamischen Gewächsen,
Und seine Lippen Lilien,
Von fließender Myrrhe träufelnd;

Vers 14.
Wie goldne Walzen
Sind seine Hände (seine Finger)
Geschmückt mit Tarsissteinen,
Sein Leib ein Kunstgebild von Elfenbein,
Bedeckt vom Schimmer der Saphire.

Vers 15.
Und Säulen weißen Marmors,
Gestützt auf goldne Sockeln seine Füße;
Sein Aussehn und Erscheinen
Ist hocherhaben, wie der Libanon,
Und auserlesen gleich den Cedern.

Vers 16.
Sein Gaumen (seine Rede) ist lauter Süßigkeit,
Holdseligkeit und Anmuth
Sein ganzes Wesen;
Das ist mein Lieber,
Und das mein Freund,
Ihr Töchter Jerusalems!

Kap. VI. Vers 1.
(Da fragten sie wiederum:)
Wohin ist dein Lieber gegangen,
Du Schönste der Frauen,
Wohin hat sich dein Lieber gewendet,
Auf daß wir mit dir ihn suchen?

Vers 2.
(Ich sprach:)
Hinabgegangen ist mein Lieber
In seinen Garten zu den Beeten,
Wo würzige Kräuter blühn,
Umschau zu halten in den Pflanzungen
Und Lilien zu pflücken.

Vers 3.
Ich bin meines Lieben,
Und mein Lieber ist mein,
Der unter den Lilien weidet.


Eilftes Gesangsstück
Kap. VI. Vers 4 bis 9.
Sulamith in Salomo's Erinnerung

Vers 4.
Salomo
Schön bist du, o meine Freundin,
Wie (die Bergstadt) Thirza,
Anmuthvoll gleich wie Jerusalem,
Furchtbar wie ein geordnet Kriegsheer.

Vers 5.
Wende hinweg von mir
Deine Augen, denn sie dringen
Ueberwältigend auf mich ein.
Dein Haar ist gleich einer Heerde Ziegen.
Die am Gilead abwärts lagern.

Vers 6.
Die Reihen deiner Zähne
Wie eine Lämmerheerde,
Aufsteigend aus der Schwemme,
Alle zwillingsträchtig insgesammt,
Unfruchtbar keines unter ihnen.

Vers 7.
Gleich einem Ausschnitt der Granatfrucht
So blinken deine Wangen durch den Schleier.

Vers 8.
Sechzig sind der Königinnen,
Achtzig der Nebenfrauen,
Und Jungfrauen sonder Zahl.

Vers 9.
Eine ist meine Taube, meine Fromme,
Die Einziggeliebte ihrer Mutter,
Die Auserkorne ihrer Gebärerin.
Es sahen sie glückselig,
Königinnen und Beifrauen,
Und priesen sie herrlich.


Zwölftes Gesangsstück
Kap. VI, Vers 10 bis 12. Kap. VII. Vers 1 bis 6.
Sulamith im Parke zu Etam

Vers 10.
Die Frauen
Wer ist diese,
Die dort hervorglänzt gleich
der Morgenröthe,
Schön wie der Mond,
Rein wie die Sonne,
Furchtbar wie ein geordnet Kriegsheer?

Vers 11.
Sulamith
Hinabgegangen war ich in den Garten
Der Wallnußbäume,
Um nachzuschauen,
Was in dem Thalgrund aufsproßt;
Um nachzuschauen, ob der Weinstock
Zu blühen schon beginnt,
Ob am Granatbaum
Die Knospen sich entfalten.

Vers 12.
Ich wußte nicht (ich dachte nicht daran),
Daß auf Prachtwagen meines Volkes, des edlen,
Mich meine Seele hat erhoben.

Kap. VII. Vers 1.
Die Frauen
Kehre zurück, kehre zurück,
O Sulamith,
Kehre zurück, kehre zurück,
Damit wir (näher) dich schauen.

Sulamith
Was mögt ihr erschauen an Sulamith?

Die Frauen
Was gleich den Reigen der Mahanaim.

Vers 2.
Wie zierlich in den Schuhen
Sind deine Schritte, Fürstentochter,
Die Schwingung deiner Hüften
Gleich Ketten, die zum Schmuck
Von Künstlerhand verfertigt.

Vers 3.
Dein Nabel wie ein runder Becher,
Den man mit Würzwein füllt,
Dein Leib gleich einem Weizenhaufen,
Mit Lilien rings umsteckt.

Vers 4.
Gleich jungen Rehen deine Brüste,
Zwillingen ähnlich der Gazelle.

Vers 5.
Dein Hals ein Thurm von Elfenbein.
Den Teichen vor dem Thor von Hesbon,
Der Stadt, die reich bevölkert,
Sind deine Augen gleich.
Dem Thurm vom Libanon,
Der gen Damaskus hinragt, deine Nase.

Vers 6.
Erhaben, wie der Karmel ist dein Haupt,
Dein niederwallend Haar wie Purpur,
Durch dessen Locken
Gefesselt ist ein König.


Dreizehntes Gesangsstück
Kap. VII. Vers 7 bis 14. Kap. VIII. Vers 1 bis 4.
Sulamith's vertrauliche Wünsche

Vers 7.
Salomo
Wie bist du doch, o Liebe,
So schön und wonnig unter
all den Freuden,
(Die je den Sterblichen verliehn!)

Vers 8.
(Wie du vor meinen Blicken stehst)
Gleichst du im Wuchs der Palme,
Und deine Brust den Datteltrauben.

Vers 9.
Erklimmen, dacht ich, will ich die Palme,
Erfassen ihre Zweige,
Und wie die Trauben des Weinstocks sollen
Mir deine Brüste sein,
Wie frischer Apfelduft dein Hauch,
Dein Gaumen wie der beste Wein. -

Vers 10.
Sulamith
Der meinem Lieben sanft hinuntergleitet,
Und auch im Schlummer noch
Erregend wirkt auf seine Lippen.

Vers 11.
Ich bin meines Lieben,
Nach mir ist sein Verlangen.

Vers 12.
Wohlan mein Geliebter,
Hinausziehen wollen wir aufs Land,
In Dörfern übernachten,

Vers 13.
Frühmorgens brechen wir auf
Zur Umschau in den Weinbergen,
Ob sich der Weinstock schon belaubt,
Ob sich entfaltet seine Blüthe,
Ob am Granatbaum sich die Knospen öffnen,
Dort werd ich dir weihen meine Minne.

Vers 14.
Schon duften mild die Mandragoren
Und über unsren Thüren aufgehäuft
Sind aller Art erlesne Früchte,
Vom letzten, wie von frühern Jahren,
Die ich für dich, mein Lieber, aufbewahrt.

Kap. VIII. Vers 1.
Ach wärest du gleich einem Bruder mir,
Der meiner Mutter Brust gesogen,
Wo immer draußen ich dich fände,
Ich würde küssen dich,
Und Niemand dürfte mich
deshalb verhöhnen.

Vers 2.
Ich würde führen dich und bringen
In meiner Mutter Haus;
Dort müßtest du mich unterweisen,
Und ich, ich würde mit gewürztem Wein
Und mit dem Moste der Granatfrucht
Dir dein Getränk bereiten.

Vers 3.
Sein linker Arm ist unter meinem Haupte,
Mit seiner Rechten hält er
mich umschlungen.

Vers 4.
Ich beschwöre euch,
Ihr Töchter Jerusalems,
Daß ihr nicht aufzuwecken,
Nicht aufzustören sucht die Liebe,
Bis daß es ihr gefällt.


Vierzehntes Gesangsstück
Kap. VIII. Vers 5 bis 7.
Sulamith und Salomo in der Heimat

Vers 5.
Die Landleute
Wer ist diese, welche dort
Heraufkommt aus der Wüste,
Sich lehnend an ihren Geliebten?

Salomo
Dort war's, unter dem Apfelbaum,
Da ich zuerst erregte deine Liebe,
Dort (in dem nahen Hause)
Hat dich gekreißet deine Mutter,
Dort war in Wehen, die dich geboren.

Vers 6.
Sulamith
Setze wie einen Siegelring
Mich auf dein Herz,
Wie einen Siegelring
Auf deinen Arm.
Denn gewaltsam, wie der Tod,
Ist die Liebe;
Unerreichbar, wie die Unterwelt,
Ist ihr Eifer,
Lodernd Feuer sind ihre Flammen,
Ihre Gluthen, Feuergluthen,
Flammen Jehova's.

Vers 7.
Machtlos ist der Gewässer Schwall,
Solche Liebesgluth zu dämpfen,
Unvermögend sind alle Ströme
Sie zu überfluthen.
Wollte hingeben auch ein Mann
Alle Habe seines Hauses
Um die Liebe,
Hohn und Spott nur würden ihm zu Theil.


Fünfzehntes Gesangsstück
Kap. VIII. Vers 8 bis 14.
Sulamith's Besuch bei den Brüdern.

Vers 8.
Sulamith
Wir haben eine Schwester,
die noch klein,
Und ohne Brüste,
Was werden wir mit unsrer Schwester
Beginnen, wenn die Zeit kommt,
Da sie umworben wird?

Vers 9.
Die Bruder
So fern' sie eine Mauer,
So werden wir auf ihr
Von Silber eine Zinne bauen,
Und wenn sie eine Thüre,
Mit einer Planke sie umstellen
Von starkem Cedernholz.

Vers 10.
Sulamith
Ich (meinerseits) war eine Mauer,
Und meine Brust gleich
Thürmen an derselben.
So wurde ich in seinen
(des Königs) Augen
Als eine (Ehrenhafte),
die den Frieden findet.

Vers 11.
Ein Weinberg war in Salomo's Besitze,
Den er den Hütern übergab,
(Mit der Bedingung),
daß ein Jeder
Für die erzielte Frucht erlegte
In Silber tausend Sekel.

Vers 12.
Was meinen Weinberg anbelangt,
So hab' ich selber über ihn verfügt.
Dein sind, o Salomo, die Tausend,
Davon zweihundert
Den Hütern deiner Frucht.

Vers 13.
Salomo
O du in Gärten Heimische,
Gefährten (deiner Jugend)
horchen deiner Stimme,
So lasse sie mich hören.

Vers 14.
Sulamith
Fliehe, mein Geliebter,
Und thue es gleich der Gazelle,
Oder den Jungen der Hirsche,
Erlustigend dich
Auf würzigen Triften der Berge.

übersetzt von Johann Emanuel Veith (1787-1876)

Aus: Koheleth und Hoheslied
Übersetzt und erklärt von
Johann Emanuel Veith
Wien 1878
Wilhelm Braumüller



 

 

 

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