Das Liebes-Poetische Manuskript N° 55

Hundert Küsse zu hundertmalen, hundert Küsse zu tausendmalen,
tausend Küsse zu tausendmalen ...

Die Küsse des Johannes Secundus (1511-1536)
 


Federico Fiori  Barcci (1526/35-1612)
Frau mit gesenkten Augen



Achtzehnter Kuss

Als meines Mädchens Lippen sie erblickte,
Vom Rund des weißen Angesichts umfangen,
Wie wenn des weisen Künstlers Hand mit rothen
Corallen Elfenbein-Gefäße ausziert,
Da weinte Cypris, und berief in Thränen
Der Liebesgötter lustig Volk zusammen.
Und sprach: wozu besiegt ich auf dem Ida
Mit meiner Lippen Purpurroth Minerven,
Wozu die Ehestifterinn, Zeus Schwester,
Nach jenes Hirten Urtheil, wenn Neära
Mich nach des Dichters Urtheil überwindet? -
So stürmt denn wuthentbrannt auf diesen Dichter,
Und tief in die verliebte Seele sendet,
In seine Brust, in seiner Lieder Heimath
Schmerzvolle Pfeil' aus überfülltem Köcher,
Daß losgeschnellt der Bogen tönend schwirre.
Doch Sie erwarm' an keiner Flamme Gluten,
Der Pfeil von Bley berühre ihren Busen,
Und starrend Eis erfülle ihre Adern. -
Und so geschah's! Ich glüh' in tiefster Seele,
Und leicht zerschmilzt mein Herz an heißen Stralen.
Deins birgest du in kaltem Winterreife,
In Klippen, wie sie des Sikanermeeres,
Sie Hadria empörte Flut umbrauset,
Und sicher lachst du des bezwungnen Freundes.
Wie undankbar! weil deine rothen Lippen
Im Lied ich pries, werd' ich gequält. Du weißt nicht
Warum du mir entfliehst, du kennst der Götter
Unbändig Zürnen, kennst Dionens Haß nicht.
Laß deinen spröden Stolz, du Wundersüße,
Wie deine Züge sey dein Herz auch zärtlich,
Und - die die Quellen meiner Qualen wurden -
Die Honiglippen preß' an meine Lippen,
Damit du, aus der Tiefe meiner Seele,
Ein Theilchen meines Giftes saugen könnest,
Und, gern besiegt, in Wechselflammen schmachtest.
Und fürchte nicht die Götter, noch Dionen:
Der Götter Schaar beherrscht ein schönes Mädchen.

 

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Übersicht

Gedicht aus: Die Küsse des Johannes Secundus
München Hyperion Verlag 1920
In der Übersetzung von Franz Passow [1786-1833]
(nach der Ausgabe Leipzig 1807)
(S. 51-53)
 


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