Minnesang

Nachdichtungen deutscher Minnesänger
 

 

 


Der von Wildonje (Wildon)
(1251–1280)



Mailied

Freude soll das Herz erfüllen
Alt und Jung, und Trauer soll
Fliehend sich das Haupt verhüllen,
Seit ich sah, wie wundervoll
Rings erglänzt des Maien Pracht,
Und ich hörte, wie der Vöglein
Jubelwettlied ist erwacht!

Vögel freun sich an der Sonne,
Wenn sie auf am Berge geht,
Was vergleicht sich mit der Wonne,
Wenn im Tau die Rose steht?
Einzig nur ein schönes Weib,
Das mit rechter Weibesgüte
Ziert und schmückt den holden Leib.

Durch die Augen wonnige Liebe
Geht mir tief ins Herz hinein,
Heimlich Liebe spricht zur Liebe:
Liebchen, könnt ich bei dir sein,
[Eh vorbei des Sommers Lust! –]
Dieses Liedchen sang ein Vöglein
Vor dem Wald aus froher Brust.


Nachgedichtet von Richard Zoozmann (1863-1934)

Aus: Der Herrin ein Grüßen
Deutsche Minnelieder
aus dem zwölften bis vierzehnten Jahrhundert,
ausgewählt und nachgedichtet
von Richard Zoozmann
Leipzig 1915 (S. 163)

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Rosen und Frauen

Freude will das Herz ergreifen
Jedem Mann und allen Frau'n;
Trauer, fürbaß kannst du schweifen,
Seit das Auge durfte schau'n
Des geliebten Maien Schein;
In den Auen hört man singen
Vögel ihre Melodei'n.

Die erfreut der Glanz der Sonne,
Wenn sie auf am Berge geht;
Was vergleicht sich mit der Wonne,
Wenn die Ros' im Thaue steht?
Ganz allein ein schönes Weib,
Die mit rechter Weibesgüte
Schmücken kann den holden Leib.

Durch das Auge geh'n die Triebe
Tief in's Herze mir hinein;
Liebe spricht geheim zu Liebe:
"Lieb, ach! könnt' ich bei dir sein
[Eh die Sommerwonne flieht!]"
Vor dem Wald ein kleines Vöglein
Hat gesungen dieses Lied.

Nachgedichtet von
Wilhelm Storck (1829-1905)

Aus: Buch der Lieder aus der Minnezeit
von Wilhelm Storck
Münster Adolph Russell's Verlag 1872 (S. 175)

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Hoher mut soll wieder beiden
Fröhlich kommen, frau und mann.
Trauern du sollst von mir scheiden,
Seit dass ich gesehen han
Des viellichten maien schein:
Man hört in den auen singen
Alle kleinen vögelein.

Die erfreun sich spielnder sonne,
Wo sie vor dem berg aufgeht,
Was vergleichet sich der wonne,
Wenn im tau die rose steht?
Niemand als ein schönes weib,
Die mit rechter weibesgüte
Wohl kann zieren ihren leib.

Liebe hebt sich in die augen
Und geht in das herz hinein,
So spricht lieb zu lieben augen:
"Lieb, wann soll ich bei dir sein?"
Dieses lied, das hat gesungen
Vor dem wald ein vögelein.

Nachgedichtet von
Friedrich Wolters (1876-1930)

Aus: Minnelieder und Sprüche
Übertragungen aus deutschen Minnesängern
des XII. bis XIV. Jahrhunderts von
Friedrich Wolters. Zweite Ausgabe Berlin 1922 Bei Georg Bondi (S. 119-120)

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