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Heinrich von Morungen
(um 1225)
Ich wähne, niemand lebe, der meinen kummer weine,
Den ich einsam trage,
Es tue denn die gute, die ich treulich meine,
Vernimmt sie meine klage.
Weh, wie kam das so, dass ich in ohnegleiche
Hingebung versank, dass ich die königreiche
Für die minne niemals nehmen wollte,
Ob ich teilen oder wählen sollte.
Wer mir das verwehrt, wenn ich sie heimlich liebe,
Der versündigt sich.
Wenn ich einsam bin, sie scheint durch alles trübe.
So bedünket mich,
Dass sie geh dort her zu mir alldurch die mauern.
Ihr reden und ihr trost, die lassen mich nicht trauern:
Wenn sie will, so führt sie mich von hinnen
Mit ihrer weissen hand hoch über die zinnen.
Ich wähne, sie sei hehre Venus, die ich minne,
Denn sie kann soviel,
Sie benimmt mir beides, freude und alle sinne.
Wie sie so will,
So geht sie dort her zu einem fensterlein
Und sieht mich an recht wie der sonne schein,
Möcht ich sie dann gerne mir beschauen,
Ach, so geht sie dort zu andern frauen.
Als sie zuerst ein hohes wähnen sandte
In mein herz hinein,
War bote ihre güte, die ich wohl erkannte,
Und ihr lichter schein
Sah mit spielenden augen gütlich mir zum grunde,
Lachen sie begann heimlich aus rotem munde.
Allsogleich entbrannte meine wonne,
Dass mein herz hoch dastand wie die sonne.
Weh, was rede ich? ja, mein glaube ist böse
Und ist wider Gott?
Bitt ich ihn nun, dass er mich hinnen löse?
Sonst war es mein spott.
Ich tue wie der schwan, der singt bei seinem sterben,
Vielleicht kann mir mein sang noch das zuletzt erwerben,
Dass man mich noch neide meiner schwere,
Wo von meinem kummer sagt die märe.
Nachgedichtet von
Friedrich Wolters (1876-1930)
Aus: Minnelieder und Sprüche
Übertragungen aus deutschen Minnesängern
des XII. bis XIV. Jahrhunderts von
Friedrich Wolters. Zweite Ausgabe Berlin 1922 Bei Georg Bondi (S. 56-57)
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