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Meister Heinrich Frauenlob
(1270 – 1317)
Das geraubte Herz
Drosseln, Lerchen, Nachtigallen
Lassen ihre Stimmen schallen,
Sie sind aller Sorgen quitt.
Ihnen kann der Lenz gefallen,
Fröhlich in des Waldes Hallen
Feiern sie sein Kommen mit.
Aber sie, an der all meine
Freude liegt, läßt mich alleine,
Ungerührt, was ich auch litt!
Venus, Frau und Meisterinne,
Hilf, daß mich die Holde minne,
Die mich bannt mit ihrem Mund.
Mut und Herz und alle Sinne
Nimmt sie mir, daß ich werd inne
Großer Glut in Herzensgrund.
O daß sie mir Freuden brächte,
Der ich gern zu dienen dächte,
Wie ichs oft ihr machte kund.
Als sie kam mit sanften Worten:
Gleich den Blumen, die erst dorrten,
Herz und Sinn erfrischt sich fand.
Auftat froh mein Herz die Pforten,
Doch sie zog zu seinen Orten
Mir nicht ein und Freude schwand.
Nein, sie hat es ganz genommen;
Mein Herz wiederzubekommen,
Ist kein Bote mir bekannt.
Nachgedichtet von Richard Zoozmann (1863-1934)
Aus: Der
Herrin ein Grüßen
Deutsche Minnelieder
aus dem zwölften bis vierzehnten Jahrhundert,
ausgewählt und nachgedichtet
von Richard Zoozmann
Leipzig 1915 (S. 208)
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