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Oswald von Wolkenstein
(um 1377 – 1445)
Sehnsucht
Ach Gott, wär' ich ein Pilgerein,*
Als ich vor Zeiten einer was,
So wallt' ich zu den Schwestern mein
Gar brüderlich und ohne Haß.
Viel Abenteuer, neue Mär'
Wollte ich losen,**
Und in die Öhrlein ihnen her
Gar freundlich kosen.
Zwei Stäbchen hätt' ich bald genäht
Auf einen Mantel, gut das steht.
Ich d'runter klösterlich verdreht,***
Schön als ein Bruder,
Der seine Schwestern lieber suchte als die Muder.
Wo Herzen bei einander, ist
Die Nacht ein einz'ger Augenblick;
Wie könnt' ich mich der kurzen Frist
Begnügen, daß ich nicht erschrick'.
Und die mein Herz besessen hat,
Mit Allgewalte,
Ich kann ihr' nimmer werden satt,
Dieweil ich alte.
Zwei Stäbchen hätt' ich bald genäht
Auf einen Mantel, gut das steht.
Ich d'runter klösterlich verdreht,***
Schön als ein Bruder,
Der seine Schwestern lieber suchte als die Muder.
Sehnliches Scheiden oft mich narrt,
Mit großer Klag' ich das erduld',
Und dennoch bangt mich täglich hart,
Daß ich mich scheiden soll von Huld,
Und daß mir selten wohnet bei,
Die mich thut freuen
In dieser Erden-Plackerei,
Daß muß mich reuen.
Zwei Stäbchen hätt' ich bald genäht
Auf einen Mantel, gut das steht.
Ich d'runter klösterlich verdreht,***
Schön als ein Bruder,
Der seine Schwestern lieber suchte als die Muder.
* Pilger, pellegrino. Man könnte
auch Pilgerlein übersetzen
** Schmeichelnd flüstern. Freuntlich kôsein,
haimlich losen,
das geit wunne
heißt es in einem andern Gedicht
*** mit frommer Miene
Nachgedichtet von Ludwig Passarge
(1825-1912)
Aus: Dichtungen von Oswald von Wolkenstein (1367-1445)
Übersetzt, eingeleitet und erklärt von Ludwig Passarge
Leipzig Reclam 1891 (S. 117-118)
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