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Oswald von Wolkenstein
(um 1377 – 1445)
Hirte und Hirtin*
1.
Hirte
Treib her.
Treib überher,
Du trautes Agneslein,
Das mein; ruck zu mir mit den Schäflein dein.
Komm doch, mein schönes Agneslein!
Hirtin
Ich seh',
Ich seh'
Dich wohl, doch mag ich dich wahrlich nicht,
Dein' Weide, die ist gar nicht dicht;
Mein' Haide steht in grüner Pflicht;
Mein' Haid',
Mein' Haid'
Die ist wohl über die Maßen reizend und gut,
Mit Klee, Laub, Gras, viel Blumenblut;**
Der Schnee geht ab in meiner Hut.
Auch hör'
Auch hör'
Ich hier viel süßer Vögelein Gesang,
Dabei ist mir die Weil' nicht lang,
Gar frei ist aller mein Gedank'.
2.
Hirte
So hân,
So hân
Ich hier wohl einen kühlen, klaren Bronn',
Ringsum auch Schatten für die Sonn';
Komm', meines Herzens höchste Wonn'.
Hirtin
Von Durst,
Von Durst
Hab' ich in keiner Weise Not;
Auch brauch' ich nicht den Käse und das Brot,
Das heut' mein Mutter mir entbot;
Viel Schwämme,
Schwämmelein,
Die wachsen hier in diesem Strauch,
Auch junge Vögel, weich und rauch;
Kommst du zu mir, ich geb' dir's auch.
Willst du
Willst du
Mich sicher ganz und mit Gemache lân,
Vielleicht treib' ich zu dir hinan,
Sonst zieht mein Vieh fernhin die Bahn.
3.
Hirte
Nun fürcht'
Nun fürcht'
Dich nicht, mein' auserwählte, schöne Dock***
Ich flecht' dir deine blonde Lock',
Und glätte dir den roten Rock.
Hirtin
Du hast
Du hast
Es mir so oft versprochen bei der Wied',****
Stets fest zu halten guten Fried',
Kein Leid mir anzuthun an einem Glied.
Hirte
Der Schad'
Der Schad'
War klein, der deinem Leib' allda geschah,
Kaum daß die Schwester davon sprach; -
Ich laß dich fürder mit Gemach.
Hirtin
Das wird
Das wird
Sich finden erst, sobald ich eine Braut,
Ob sich verändert meine Haut;
Pfui doch, du thätst mir's viel zu laut.
4.
Hirte
So willst
So willst
Du kommen, wonniglicher, schöner Hort!
Du bist mir lieber hier denn dort;
Lisple mir zu ein freundlich Wort.
Hirtin
Und wär'
Und wär'
Ich dort, wer wär' dann, Lieb, bei dir allhie?
Mein Herz ertrüg' den Abschied nie;
O Lieb, du weißt wohl selber wie.
Hirte
Doch wohl
Doch wohl
Ward mir viel mehr als hunderttausend Stund';
Mich tröst't dein rosenroter Mund,
Der macht das schwere Herz gesund. - -
Viel Freud'
Und Wonn' ihr beider Leid allda betrat,
Bis daß der Abend sich genaht;
Ohn' Leid schied sich ihr beider Pfad.
* Der theokritisch-sinnliche Inhalt dieses
Gedichtes
ist wohl der Grund, warum so vieles im Halbdunkel
gelassen ist.
** Blüte
*** Puppe
**** Weide
Nachgedichtet von Ludwig Passarge
(1825-1912)
Aus: Dichtungen von Oswald von Wolkenstein (1367-1445)
Übersetzt, eingeleitet und erklärt von Ludwig Passarge
Leipzig Reclam 1891 (S. 118-120)
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