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Oswald von Wolkenstein
(um 1377 – 1445)
Wächterlied 1
1.
"Ich spür' ein' Luft
Aus kühlem Duft,2
Daß mich wohl dünkt in meiner Vernunft, -
Wie man ihn nennet,
Kennet, -
Es sei Nordosten.
Ich Wächter sag',
Mir scheint der Tag
Erwachet schon aus dunklem Hag';
Ich seh'
Zur Höh'
Die Morgenröte glosten.3
Die Vögel singen überall,
Die Heidelerche, Zeisig, Drossel, Nachtigall,
Auf Berg, im Thal
Schon ihr Gesang erschellet.
Liegt jemand hier, der einsam wacht,
Der sich in Freuden laut erging die lange Nacht,
Derselb' hab' acht,
Daß er sich mehr gesellet." -
Die Jungfrau hätt verschlafen,
Der Knab' wacht' lützel baß,4
Sie riefen beide Waffen
All über des Tages Haß.
Das Fräulein schalt ihn sehre:
Herr Tag, ihr könnt nicht Ehre
Bewahren in der Maaß'.5
2.
Ein Schlücklein weiß
Sie bot mit Fleiß
Dem Knaben hin mit Händlein heiß:
Steh' auf
Und lauf,
Siehst du den grauen Morgen? -
Ein Fensterbrett 6
Er öffnen thät,
Der Knab' hin zu dem Fräulein red't:
Ach Gott,
Ohn' Spott,
Er kommt daher mit Sorgen;
Er dringet durch das Firmament,
Der Luzifer hat den Schein von ihm gesend't,
Die Nacht vollend't
Schon gen des Tages Grauen. -
Er küßt sie auf den roten Mund:
Ach Herzenslieb, kaum ist es eine halbe Stund',
Daß wir, verwund't,
Uns thäten bei einander schauen. -
Sie mußten seufzen und klagen,
Beschlossen 7die Mündelein,
Daß sie nun wollt' verjagen
Des lichten Tages Schein.
Sie sprach: Mein Trautgeselle,
Wie uns auch trägt die Welle,
Du bist gewaltig mein.
3.
Der Wächter rührt, 8
Ein' Stimm' er führt,
Gellt durch ein Horn, daß ihn spürt;
Künd't einen Gast
Mit Glast
Vom Oriente.
Das Fräulein dacht'
In lieber Acht':
Ach Sonne, was hat dich herausgebracht?
Ich wollt'
Unhold,
Du wär'st im Occidente.
Ich wollt', dein Schein wär' mir noch fern;
Mir wär' viel lieber der milde Abendstern,
Den säh' ich gern:
Möcht' sich der Wunsch vollenden!
Gar laut da lacht der Knabe fein:
Mein höchster Hort, so kann es leider nimmer sein,
In sehnender Pein
Muß ich mich von dir wenden.
Meiner Freuden Schöpferinne
Meines Herzens Zuckernar,9
Du hast mir Herz und Sinne
Benommen ganz und gar. -
Sie inniglich sich umschlangen,
Mit Armen fest umfangen: -
Mein Lieb, dahin ich fahr'.
1 Ein sogenanntes "Tageslied".
Der Wächter oder Warner,
trennt die Liebenden.
2 Nebel, Dampf
3 Glänzen
4 Wenig besser
5 Maaße, früher weiblich gebraucht
6 Fensterlade
7 Aneinander geschlossen
8 Weckt
9 Zuckerspeise
Nachgedichtet von Ludwig Passarge (1825-1912)
Aus: Dichtungen von Oswald von Wolkenstein (1367-1445)
Übersetzt, eingeleitet und erklärt von Ludwig Passarge
Leipzig Reclam 1891 (S. 121-123)
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