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Oswald von Wolkenstein
(um 1377 – 1445)
Der Warner
1.
Erwache sanft, vielschönes Weib,
Der nimmer gleicht ein ird'scher Leib,
Mit zarter Händlein Wisament,*
Des freu' mit Recht dich heuer.
Blick durch des Maien hohes Dach,
Und tröst' mich, Lieb, für Ungemach.
Wenn man den hohen Tag erkennt,
So komm' mir, Frau, zur Steuer;**
Daß ich des Wächters nicht entgelt'
Und von ihm bleibe unvermeld't,
Weil ich zu lange hier geblend't
Lag in verschlaf'ner Scheuer;
Bei Einer, der ich Nacht und Tag
Gunstlich mit gutem Herzen pflag,
Nach der es immer heißer brennt
Durch schmerzlich' Abenteuer.
Auf, jung und alt, und macht euch kühn,
Und freut euch gen des Maien Grün,
Der schon erglänzet, neu zu blüh'n,
Mit herrlichem Gefärbe.
Nun schmückt euch alle, Weib und Mann,
Daß wir den Maien nicht verlân,
Mit dem wir sollen höher stân,
Gar wonniglich, ohn' Herbe.
2.
Ich hör' viel süßer Vöglein Ton
In meinem Haupt erklingen schon
Von oben nieder in das Thal,
Daß sich mein Herz erwecket
Zu dir, du auserwählte Ein';
Ich hoff', du läßt mich nicht allein,
Seit daß du bist mein höchster Gral, ***
Der alles Leid verdeckt.
Dein steter Diener ewiglich,
So will ich sein dir minniglich,
Reizend, vor aller Frauen Zahl,
Mit reichem Sang bestecket.****
Und das hast du verschuldet gar
Um mich, du holdes Fräulein klar,
Mit deines zarten Leibes Saal,
Der Ehren voll verstrecket.*****
Auf, jung und alt, und macht euch kühn,
Und freut euch gen des Maien Grün,
Der schon erglänzet, neu zu blüh'n,
Mit herrlichem Gefärbe.
Nun schmückt euch alle, Weib und Mann,
Daß wir den Maien nicht verlân,
Mit dem wir sollen höher stân,
Gar wonniglich, ohn' Herbe.
3.
Es nahet gen des Tages Glanz,
Frau, ich sollt spähen auf mein Schanz,******
Daß ich den Warner nicht versaum',
Der unsrer denkt mit Treuen;
Dem wir so gut befohlen sind
Mit großer Lieb', als wie ein Kind,
Das von der Mutter rührt sich kaum;
Des können wir uns freuen.
Die Zeit dringt her aus kühlem Duft,
Das spür' ich wohl an mancher Luft,
Die mich berührt durch schweren Traum;
O Scheiden und Zerstreuen!
Hilf, Schatz, daß deine Schöngestalt
Ich schau' bald in des Maien Wald
Mit Freuden unterm höchsten Baum,
Der grün sich thut erneuen.
Auf, jung und alt, und macht euch kühn,
Und freut euch gen des Maien Grün,
Der schon erglänzet, neu zu blüh'n,
Mit herrlichem Gefärbe.
Nun schmückt euch alle, Weib und Mann,
Daß wir den Maien nicht verlân,
Mit dem wir sollen höher stân,
Gar wonniglich, ohn' Herbe.
* Bildung, Modelierung; der Wappenkunde entlehnt
** Zu Hilfe
*** Die Sage von König Arthur und dem Gral
hatte Oswald in England kennen gelernt.
Er kannte aber auch den frommen Ritter
Parcival Wolframs
**** Begabet
***** Das ist versehen, begabt. Jagdausdruck vom Hirsch,
der 'verstreckt', wenn ihm neuer Hörner wachsen.
****** Rechter Zeitpunkt, norwegisch skans
Nachgedichtet von Ludwig Passarge
(1825-1912)
Aus: Dichtungen von Oswald von Wolkenstein (1367-1445)
Übersetzt, eingeleitet und erklärt von Ludwig Passarge
Leipzig Reclam 1891 (S. 123-125)
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