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Oswald von Wolkenstein
(um 1377 – 1445)
Sehnsucht
1.
Sehnlichen langen Zeit- und Weilvertreib
Schafft mir ein minnigliches Weib;
Wenn ich erwach' und find' sie nicht,
Die mein gewaltig ist,
Beschleicht mich Trauren allemal,
Und mehrt sich meine große Qual.
Die mir an meinem Arm gebricht,
Ein Schatz, ohn' arge List,
Klüglich,
Füglich,
Untrüglich
Wär' ich hoher Gail,*
Würd' mir ihr' Lieb' noch einst zu teil.
2.
Ach Scheiden, bittre Wurz, verderblich Kraut,
Du fernst mir meine liebste Braut,
Wie vor ich keine noch gewann,
So ganz von Tadel frei.
Fürwahr, ich wollt', wer's Scheiden hat erdacht,
Es würd' ihm hiefür keine liebe Nacht
Von einer Frauen wohlgethan
Im grünen Monat Mai.
Trauern,
Dauern,
Lauern
Muß ich als wie ein Kind,
Bis ich die Zarte wiederfind'.
3.
Du, Freude, Glück, mir Heil und höchstes G,
Nun wend', um Gott, mein sehnlich Weh,
Vernünftiglich, nach weisem Rat,
Daß ich dich baldigst wiederschau';
Damit ich glaube, was du freundlich sprichst,
Daß du die Treue nimmer brichst,
Damit dein' adelige Saat
Nicht leere Frucht erbau'.
Rosige,
Losige,
Kosige
Waideliche Gret,
Vergiß mein nicht, wie es auch geht.
* Lust, Freude
Nachgedichtet von Ludwig Passarge
(1825-1912)
Aus: Dichtungen von Oswald von Wolkenstein (1367-1445)
Übersetzt, eingeleitet und erklärt von Ludwig Passarge
Leipzig Reclam 1891 (S. 153-154)
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