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Oswald von Wolkenstein
(um 1377 – 1445)
An Sabine Jäger
Von achtzehn Jahren Eine hat
Gemacht, daß all' mein' Freude schweigt,
Seit mir mein Auge früh und spat
So wonniglichen Wandel zeigt.
Ohn' Unterlaß hab' ich kein Ruh,
Mich zwingt ihr Mündlein auch dazu,
Das sich so lieblich auf und zu
Mit Worten süß kann lenken.
Wie fern ich sei, doch folget mir
Ihr Angesicht durch alle Land';
Ihr holder Blick umranket schier
Mein Herz in rechter Lieb' entbrannt.
Ach Gott, wüßt' sie nur mein' Gedank',
Wenn ich vor ihr, vor Sehnsucht krank,
Muß stehn und darf an keinen Wank
Und kein Umarmen denken.
Ein Weib, so weiblich, so voll Scherz,
So üppig, hab' ich nie gesehn;
So schön, bereitet sie mir Schmerz,
Hoch von dem Haupt bis zu den Zehn.
Wenn ich bedenk' ohn' Unterlaß
Die Holdgestalt, ihr ganzes Maß,
Wie könnt' ich ihr wohl sein gehaßt? -
O wollt' sie Lieb' mir schenken!
Nachgedichtet von Ludwig Passarge
(1825-1912)
Aus: Dichtungen von Oswald von Wolkenstein (1367-1445)
Übersetzt, eingeleitet und erklärt von Ludwig Passarge
Leipzig Reclam 1891 (S. 104-105)
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