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Reinmar der Alte (von Hagenau)
(um 1194 - 1207)
Der geraubte Kuß
Ich werbe um alles, was ein Mann
Zu weltlichen Freuden haben soll;
Das ist ein Weib, von der ich kann
Genug nicht reden, was Lobes voll.
Doch lob ich sie, wie man bei Frauen tut,
Sie rechnet mirs niemals an für gut;
Doch schwör ich, daß ich stets dafür hielt,
Sie habe an Tugend das Höchste erzielt -
Nun hat sie verspielt!
Sie ist mir lieb, doch es dünket mich,
Daß ich ihr völlig gleichgültig bin;
Was tut es? Ich leid es, und ewiglich
Bleib ich ihr getreu doch mit Herz und Sinn.
Vielleicht, daß ein Wunder an mir geschieht,
Daß sie mich doch einmal noch gerne sieht!
Dann will ich beneiden nicht jenen Mann,
Der höheres Glück zum Ruhm sich gewann -
Er weide sich dran!
Wenn manchmal mir zuflüstert der Sinn
Untreuen Rat, daß ich fort von ihr
Mich wende zu anderm Weibe hin,
So weilt doch mein Herz nur bei dir, bei dir!
Wohl ihm, daß es trifft so würdige Wahl,
Und sich erfreuet der süßen Qual.
Doch hab ich erkoren mir dich zum Lieb,
Daß, ob es die Welt auch zum Zorne trieb,
Dir treu ich verblieb.
Da mir zum Leben noch bleibt die Zeit,
Wie lang es wär, ihr gehört jeder Tag;
So bin ich zu Diensten ihr allbereit,
Und freue mich, daß ich ihr dienen mag.
Ja schwer sie aus ihrem Dienst mich drängt,
Wenn mein Herz auch geringen Lohn nur empfängt,
Sie glaube mir nur, wenn ich ihr sag,
Daß große Not ich im Herzen trag
Bei Nacht und bei Tag.
Und wenn sie mir einst gönnte das Glück,
Zu rauben ein Küßchen dem holdseligen Mund,
Ich trüg es davon und gäbs nicht zurück
Und bärg es verstohlen in Herzens Grund.
Doch hätte sie Kummer ob solchem Verrat,
Und zürnte gar meiner Missetat;
Was tät ich unseliger Mann wohl vor Gram?
Zurückstellt den Kuß ich, wenn zu ihr ich kam,
Hin, wo ich ihn nahm!
Nachgedichtet von Richard Zoozmann (1863-1934)
Aus: Der Herrin ein Grüßen
Deutsche Minnelieder
aus dem zwölften bis vierzehnten Jahrhundert,
ausgewählt und nachgedichtet
von Richard Zoozmann
Leipzig 1915 (S. 43-44)
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