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Schenk Ulrich von Winterstetten
(um 1240)
Wächterlied
Wer heimlich noch der Minne pflegt,
Den will ich warnen: es ist Zeit,
Daß er vom Liebchen scheide!
Und ob es ihm das Herz bewegt,
Er trenne sich in Heimlichkeit,
Ich warne alle beide!
Und wenn er sie mit einem Kuß beglückt
Und noch einmal ans Herz gedrückt
In zärtlicher Umarmung,
Dann laß er von der Minne!
So sang ein Wächter von der Zinne.
O weh mir! rief ein holdes Weib,
Dies Wecken macht das Herz mir schwer;
Wie ist die Nacht vergangen!
Sie lehnte an des Freundes Leib
Und sprach: So soll ich nimmermehr
Mit Armen dich umfangen?
Der Freund umarmte sie in bitterm Schmerz
Und drückte innig sie ans Herz,
Und beide Arm in Arme
Mit tiefberauschtem Sinne
Genossen noch einmal der Minne.
Der Ärmsten Augen wurden rot,
Daß sie des lieben Mannes Brust
Benetzt mit ihren Zähren.
Er stillte ihres Herzens Not
Und küßte sie in seliger Lust
Wie s Minne mag gewähren.
Er küßte Wangen ihr und Mund und Kinn
Und sprach: Vielsüße Buhlerin,
Mein Herz und meine Treue
Gehört nur dir hienieden! –
Und so ist er von ihr geschieden.
Nachgedichtet von Richard Zoozmann (1863-1934)
Aus: Der
Herrin ein Grüßen
Deutsche Minnelieder
aus dem zwölften bis vierzehnten Jahrhundert,
ausgewählt und nachgedichtet
von Richard Zoozmann
Leipzig 1915 (S. 120)
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