Minnesang

Nachdichtungen deutscher Minnesänger
 

 

 


Ulrich von Lichtenstein
(um 1250)



Was ist Minne?

Fraue schöne, Fraue reine,
Fraue selig, Fraue gut,
Eure Minne ist noch kleine,
Drum seid ihr so wohlgemuth.
Würd' euch Minnezwang nur kund,
Bald auch würd' er seufzen lernen,
Dieser kleine rothe Mund!

"Herre, sagt mir: Was ist Minne?
Obs ein Weib sei oder Mann?
Denn noch nie ward ich ihr inne.
Sprecht, wie ist sie angethan?
Das verkündet Alles klar,
Wie sie sei und wie sie's treibe,
Daß ich mich vor ihr bewahr."

Fraue, Minn' ist so gewaltig,
Daß ihr dienet alles Land,
Ihre Macht ist mannigfaltig,
Ihre Sitte weitbekannt.
Sie ist übel, sie ist gut
Und in ew'gem Wechselmuthe
Wohl und weh zugleich sie thut.

"Herre, kann die Minne wenden
Traurigkeit und Seelenleid,
Hohen Muth ins Herz uns senden,
Geben Zucht und Würdigkeit?
Sagt mir, hat sie dazu Kraft?
Dann will ich vor ihr mich beugen,
Weil das höchste Gut sie schafft."

Frau, ich sage euch noch mehre:
Minnelohn ist Himmelreich;
Sie giebt Freude, sie giebt Ehre,
Sie macht aller Tugend reich.
Augenweide, Herzenspiel
Und viel tausend andre Wonnen
Giebt sie, wenn sie lohnen will.

"Herre, wie kann ich erringen
Ihren Lohn und Habedank?
Wenns mir sollte Kummer bringen,
Dazu ist mein Leib zu krank.
Vor den Leiden ist mir bange:
Darum sprecht, wie fang' ichs an,
Daß ich ihren Lohn erlange?"

Fraue, da mußt du mich meinen
Herziglich, so wie ich dich.
Und wir müssen uns vereinen
Beide ganz zu einem Ich.
Bist du mein, so bin ich dein.
"Herre, das kann nicht geschehen:
Seid nur eur und ich bin die mein!"


Nachgedichtet von
Wilhelm Müller (1794-1827)

Aus: Blumenlese aus den Minnesingern
Herausgegeben von Wilhelm Müller
Erste Sammlung Berlin 1816
In der Maurerschen Buchhandlung (S. 90-95)

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