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Ulrich von Lichtenstein
(um 1250)
Sehnsucht
Weicht umher! ich will mich neigen
Vor dem tugendreichsten Weib.
Wer kann Missethat bezeugen
Gegen ihren keuschen Leib?
Sie ist alles Makels rein,
Darum muß ich stets ihr Diener sein.
Zu dem heißersehnten Weibe
Strebt das volle Herze mein
Und es will aus meinem Leibe
Schier in ihre Brust hinein:
Und gar mächtig pocht es an,
Daß ichs kaum zurückehalten kann.
Lächelt sie mich an, die gute,
O dann springts vor Jubel auf
Und es fliegt mit Adlermuthe
In die Lüfte hoch hinauf.
Wo wär' in der engen Brust
Wohl ein Raum für solche Himmelslust?
Dürft ich sie nur einmal küssen,
Einmal drücken an die Brust,
Aus dem Kusse müßte sprießen
Eine ewiggrüne Lust,
Küssen wollt' ich sie so gut,
Daß sie fühlen lernte Minnegluth.
Ach, aus ihrem rothen Munde
Saugt' ich warmen Honigsaft
Und bis zu des Herzens Grunde
Flöß' mir frische Lebenskraft.
Keine Traurigkeit, kein Schmerz
Käme jemals wieder in mein Herz.
Küssen ist der Minne Rose,
Die die Wonnewunden ritzt,
Wenn in traulichem Gekose
Lieb und Lieb beisammen sitzt.
Nichts auf Erden thut so wohl,
Als nur Eins, das man nicht nennen soll.
Gern will ich vom Küssen singen,
Was es Freud' und Wonne beut:
Mag es auch unziemlich klingen,
Freudenhochzeit nenn ichs heut,
Und auch so den Minnelohn,
Allen Feinden meiner Lust zum Hohn.
Nachgedichtet von
Wilhelm Müller (1794-1827)
Aus: Blumenlese aus den Minnesingern
Herausgegeben von Wilhelm Müller
Erste Sammlung Berlin 1816
In der Maurerschen Buchhandlung (S. 96-101)
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