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Walther von der Vogelweide
(um 1170 - 1230)
Doppelter Verschluß der Geliebten
Was hat die Welt zu geben
Lieb'res als ein Weib,
Das sehnsücht'gem Herzen mehr erfreulich sei?
Was gibt mehr Lust zu leben
Als ihr edler Leib?*
Wahrlich, ich weiß nichts, was Freuden mehr verleih'.
Wo ein Weib mit dem es treulich meinet,
Der zum Preis ihr lebt allein,
Freud'ge Zuversicht ist da mit Lust vereinet,
Schön'res noch als dies kann in der Welt nicht sein.
Zweifältig ist verschlossen,
Die da lieb mir ist:
Dort zu Haus versperrt und stolz erhaben hier.
Das eine hat verdrossen
Mich schon lange Frist,
Und das andre weckt nur größ're Sehnsucht mir.
Läg' das Schlüsselamt in meinen Händen,
Dort des Leibs, der Tugend hier:
Dieses Amt, es könnt' mir alle Sehnsucht enden,
Ihre Schönheit gäbe neue Jugend mir.
Wie kann ein Hüter scheiden
Von der Liebsten mich,
Die in steter Treue ich verehrt bisher?
Solch Lieben zu verleiden,
Des begeb' er sich:
Denn ich dien' in freud'ger Hoffnung der Gewähr.
Wahr' ein Hüter ihren Leib auch immer,
Ein Trost bleibt mir doch dabei:
Von der Liebe nämlich scheidet er mich nimmer,
Zwängt er 's erste ein, das zweite bleibt doch frei!
* "Leib" bezeichnet häufig nicht bloß den Körper,
sondern die Persönlichkeit ihrem ganzen Wesen nach.
Nachgedichtet von Bruno Obermann
Aus: Gedichte Walthers von der Vogelweide
Uebersetzt und erläutert von Bruno Obermann
Stuttgart Berlin Leipzig 1886 (S. 55-56)
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Doppelter Verschluß
Was hat die Welt zu geben
Wohl Holdres als ein Weib,
Daß es ein Herz mit tiefer Sehnsucht liebt?
Was gibt mehr Lust zu leben
Als reizgeschmückter Leib?
Ich wüßte nichts, was höhre Wonne gibt!
Eignet dem ein Weib mit Glutverlangen,
Der ihr ganz zu Lobe lebt,
Der ist tröstlich-freudenvoll umfangen –:
Nichts auf Erden mehr den Sinn erhebt!
Mein Lieb ist zwier verschlossen,
Zu der ich Liebe trage:
Durch Hüter und durch ihren stolzen Sinn.
Hat jenes mich verdrossen,
Ach! schon seit manchem Tage,
So bringt mir dies nur Sehnsucht zum Gewinn.
Sollt ich diese beiden Schlüssel hüten
Ihres Leibs und ihrer Tugend,
Viel des Leids solch Amt mir könnt vergüten:
Ihre Schönheit gibt stets neue Jugend.
Die Hüter möchten scheiden
Von meiner Liebsten mich,
Der ich in Treuen diente Jahr um Jahr.
Die Liebe zu verleiden,
Begab sie dessen sich:
Hoffende Minne nähr ich immerdar!
Mag die Hut mir ihren Anblick rauben,
Bleibt ein Trost mir doch dabei:
Meine Liebe muß sie doch erlauben,
Zwingt sie eins, bleibt doch das andre frei!
Nachgedichtet von Richard Zoozmann (1863-1934)
Aus: Walther von der Vogelweide
aus dem Mittelhochdeutschen übertragen
eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von
Richard Zoozmann
Herausgeber: Jeannot Emil Freiherr von Grotthuss
Druck und Verlag von Greiner und Pfeiffer Stuttgart 1907 (S. 44-45)
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