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Walther von der Vogelweide
(um 1170 - 1230)
Wesen der Minne
Die Minn' ist weder Mann noch Weib,
Sie hat nicht Seele und nicht Leib,
Niemals ist ein Bild ihr gleich gewesen.
Ihr Nam' ist allbekannt, doch fremd ihr Wesen;
Und es kann doch niemand ohne sie
Sich jemals Gottes Huld gewinnen.
[Ja, Heil drum denen, die da minnen],*
In falsche Herzen kam sie nie.
Minne als Führerin
Man schlug schon oft hier in der Welt
Als Minne vieles falsche Geld.
Wer aber ihr Gepräge recht ersehen,
Dem kann mit meinem Wort ich dafür stehen:
Folgt er ihr getreu nur jederzeit,
Bezwingt ihm Roheit nie die Sinne.
Zum Himmel paßt so gut die Minne,
Drum wähl' ich sie mir als Geleit.
* Im Texte fehlt hier eine Zeile.
Nachgedichtet von Bruno Obermann
Aus: Gedichte Walthers von der Vogelweide
Uebersetzt und erläutert von Bruno Obermann
Stuttgart Berlin Leipzig 1886 (S. 202)
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Die Minn' ist weder Mann noch Weib
Die Minn' ist weder Mann noch Weib,
Hat weder Seele, weder Leib,
Kein Abbild kann von ihr geschaffen werden:
Ihr Nam' ist kund, sie selbst ist fremd auf Erden
Und es kann doch Niemand ohne sie
Sich Gottes Gnade je gewinnen.
(Vertraue denen, die da minnen:)
In falsche Herzen kam sie nie.
Macht der wahren Liebe
Viel falsche Münz' in unsern Tagen
Ist nach der Minne Bild geschlagen.
Doch hast du ihr Gepräge recht erkannt,
Dann setz' ich meine Treue dir zum Pfand:
Folgst ihrer Leitung du mit treuem Sinn,
So wird dich Rohheit nie bemeistern.
Zum Himmel kann die Lieb' begeistern:
Ihr folge ich als Führerin.
Nachgedichtet von
Karl Pannier
Aus: Walthers von der Vogelweide
Sämtliche Gedichte
Aus dem Mittelhochdeutschen übertragen
mit Einleitung und Anmerkungen versehen
von Karl Pannier
Zweite Auflage Leipzig 1876 (S. 152-153)
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Die Minne
Die Minn ist weder Mann noch Weib,
Sie hat nicht Seele, hat nicht Leib,
Irdisch Bildniß ward ihr nicht beschieden;
Ihr Nam ist kund, sie selber fremd hienieden,
Und es kann doch Niemand ohne sie
Des Himmels Gnad und Gunst gewinnen;
(Vertraue denen, die da minnen:)
In falsche Herzen kam sie nie.
Viel falsche Münz in unsern Tagen
Ward nach der Minne Bild geschlagen:
Weißt du ihr Gepräg zu unterscheiden,
So bürg ich dir mit meinen höchsten Eiden:
Willst du in ihrem Schutz die Straße ziehn,
Daß dir Unfug nimmer schadet;
Minn ist im Himmel so begnadet:
Ich fleh um ihr Geleit dahin.
Nachgedichtet von
Karl Simrock (1802-1876)
Aus: Gedichte Walthers von der Vogelweide
übersetzt von Karl Simrock
und erläutert von Karl Simrock und Wilhelm Wackernagel
In der Vereinsbuchhandlung Berlin 1833 Erster Theil (S. 35)
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Die Minne ist weder mann noch weib,
Sie hat nicht seele weder leib,
Und sie vergleicht sich keinem bild.
Ihr name ist kund, sie selbst ist fremd und wild,
Und dennoch möchte niemand ohne sie
Die gotteshulden je gewinnen ...
Sie kam in falsche herzen nie.
Es hat in unsern kurzen tagen
Viel falsch zur Minne sich geschlagen.
Wer aber ihr insiegel recht erkannte,
Dem setz ich meine wahrheit drum zum pfande:
Wenn er in ihrem geleite stritte,
Dass ihn unfügheit nie erschlüge:
Minne ist dem himmel so gefüge,
Dass ihr geleit ich hin erbitte.
Nachgedichtet von
Friedrich Wolters (1876-1930)
Aus: Minnelieder und Sprüche
Übertragungen aus deutschen Minnesängern
des XII. bis XIV. Jahrhunderts von
Friedrich Wolters. Zweite Ausgabe Berlin 1922 Bei Georg Bondi (S. 100)
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