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Wolfram von Eschenbach
(um 1170 - 1220)
Den morgenblick bei wächters sang erkor
Die frau, da voll ergetzen
An werten freundes arm sie lag,
Darum sie süsse freuden viel verlor,
Da mussten sich benetzen
Lichte augen. Sie sprach: "O weh, tag,
Wild und zahmes freut sich dein
Und sieht dich gerne,
Nur ich eine: wie soll mir's ergehn?
Nun kann nicht länger hie bei mir bestehn
Mein freund: den jagt von mir dein schein."
Der tag mit kraft voll durch die fenster drang,
Viel schlösser sie beschlossen:
Das half nicht: drum ward ihr sorge kund.
Die freundin den freund fest an sich zwang,
Die augen, die begossen
Ihr beider wangen. So sprach ihr mund:
"Zwei herzen und ein leib sind wir,
Ganz ungeschieden
Unsre treue miteinander fährt,
Der grossen liebe sturm mich tief und ganz verheert,
Wenn so du kommst und ich zu dir."
Der traurige mann nahm urlaubs bittres muss.
Als lichte leiber, weiche wangen
Näher kamen, sah des tages schein
Auf weinend auge, süsser frauen kuss.
Ganz flochten und umschlangen
Sie münder, brüste, arme, blankes bein:
Wollt ein meister malen das,
Wie sie gesellig
Lagen so, wär das auch dem genug.
Ob beider freude auch viel sorgen trug,
Sie pflegten minne sonder hass.
Nachgedichtet von
Friedrich Wolters (1876-1930)
Aus: Minnelieder und Sprüche
Übertragungen aus deutschen Minnesängern
des XII. bis XIV. Jahrhunderts von
Friedrich Wolters. Zweite Ausgabe Berlin 1922 Bei Georg Bondi (S. 107-108)
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