Maulana Dschelaleddin

Rumi

(1207-1273)

(in der Übersetzung von Vinzenz von Rosenzweig 1838)



Lebst du auch von jedem Wunsch geschieden,
Uns doch wirst du suchen und uns fröhnen;
Hast du stets auch Sängerruhm gemieden,
Uns doch wird ein Lied von dir ertönen.

Bist du reich auch, wie Carun* gewesen,
Bei der Liebe wirst du betteln gehen;
Warst du auch zur Herrschaft auserlesen,
Dienend wird man uns dich huld'gen sehen.

Eine Fackel dieses Saal's voll Schimmer
Wird wohl hundert Fackeln noch entzünden.
Leblos oder lebend, wirst du immer
Nur durch uns das Leben dir begründen.

Deiner Füsse Fessel wird sich lösen,
Reine Klarheit wird dich rings umstrahlen,
Und es wird auf deinem ganzen Wesen
Sich, durch uns, ein Rosenlächeln malen.

Tritt herein mit dem zerfetzten Kleide,
Dass du Herzen schau'st, die lebend leuchten;
Hüllst du auch in Atlas dich und Seide,
Wirst bei uns du doch zerfetzt dir däuchten.

Wenn zur Erde niederfällt der Samen,
Steigt empor als mächt'ger Baum er wieder:
Fandst du sinnig dieses Räthsels Namen,
Fällst mit uns auch du in Demuth nieder.

Tebris' hehres Sonnenlicht der Wahrheit**
Spricht zur Knospe auf den Herzens-Auen:
»Wenn dein Auge sich erschliesst in Klarheit,
Wirst, durch uns, du hell und deutlich schauen.«


* Carun ist der Moses der heiligen Schrift. Er besass, nach den Mohammedanern,
unermessliche Reichtümer, die er sich durch Hilfe der Alchimie erworben hatte, in welcher Kunst der Prophet Moses, sein naher Anverwandter, ihm Unterricht gegeben. Eben so geizig als reich, weigerte er sich den von Gott eingesetzten Zehend seiner Habe zu bezahlen. Moses, wegen eines früheren Aufruhres dessen Urheber Carun  gewesen war, schon gegen ihn erbittert, beklagte sich bei Gott über diesen Undankbaren; Gott erlaubte dem Moses ihn nach seinem eigenen Gutdünken zu bestrafen, worauf der Prophet der Erde befahl, ihn sammt seiner Familie und allen seinen Reichtümern zu verschlingen.

** Bekanntlich beziehen alle persischen Odendichter den Endvers ihrer Gedichte
auf sich selbst; Dschelaleddin Rumi aber, sich selbst vergessend, bezieht ihn meistens auf seinen mystischen Lehrer, den Scheich Schemseddin Tebrisi (Glaubenssonne aus Tauris, Verfasser des mystischen Tractates: Mergubul-Kulub, d.i. Wunsch der Herzen), der, angeblich ein Sohn des Fürsten der Assassinen
Choand Alaeddin, nachdem dieser die Bücher seiner Vorfahren verbrannt hatte, von ihm nach Tauris, der Hauptstadt Aserbaidschan's gesendet wurde, wo er sich, unter der Leitung des Scheich Rukneddin Sedschassi, dem beschaulichen Leben weihte. Nach einem längeren, der Frömmigkeit und der Gelehrsamkeit gewidmeten Aufenthalte daselbst, kam er nach Konia (Iconium) in Kleinasien, wo er Dschelaleddin's ausschließlicher Leiter wurde; als Neuerer verfolgt, musste er letztgenannten Ort verlassen; er begab sich daher in Gesellschaft Dschelaleddin's abermals nach Tauris, und kehrte mit ihm später wieder nach Konia zurück. Von hier ging er sodann nach Syrien, und während seiner zweijährigen Abwesenheit dichtete Dschelaleddin die schönsten der an ihn gerichteten Ghaselen seines Diwan's, die er, im Feuer der Begeisterung, auf eine Säule gestützt, improvisierte, während seine Schüler dieselben aufschrieben.
Andere sagen dass, als Mewlana Dschelaleddin im Jahre 642 (1244) öffentlich in Iconium, nach Art der alten Weltweisen, lehrte und die ganze Stadt sich zur Anhörung dieses Meisters drängte, der Derwisch Schemseddin Tebrisi, ein Schüler Ebubekr's und Scheich eines Derwischen-Ordens, nach Iconium kam,
und dem Mewlana Dschelaleddin, der sich zu sehr den natürlichen Wissenschaften und weltlichen Dingen gewidmet hatte, zum beschaulichen Leben lud. Mewlana Dschelaleddin's zahlreiche Schüler, darüber erbost, dass ihr Lehrer
seinen Unterricht aussetzte und stets eingeschlossen mit Schemseddin Tebrisi lebte, wollten diesen Derwisch umbringen, der sich flüchten musste, um dem Tode zu entgehen. Mewlana Dschelaleddin, untröstlich über dessen Abreise, entsagte der Welt, ward Derwisch, und gründete bei dieser Gelegenheit im Jahre 643 (1245)
den Derwischen-Orden der Mewlewi. Aus Liebe gegen seinen Meister nannte er stets diesen, statt sich selbst, am Schlusse jeder Ghasele. Schemseddin, der seinen berühmten Jünger überlebte und lebendig geschunden zu werden verdammt wurde, liegt zu Konia begraben, wo seine Grabstätte, der Gegenstand der Andacht der Mewlewi-Derwische und der öffentlichen Wohltätigkeit osmanischer Sultane, noch heute ein berühmter Gnaden- und Wallfahrtsort ist.
Dschami singt in einer seiner Ghaselen anspielend auf ihn:

Seit du Mond, als Tebris' Sonne,
Mit der Glanzgestalt erschienst,
Kennt Dschami, dem Molla ähnlich,
Tebris nur als Betaltar.

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