Maulana Dschelaleddin

Rumi

(1207-1273)

(in der Übersetzung von Vinzenz von Rosenzweig 1838)



Bald hasst man mich, bald bin ich der Verehrte,

Bald der Begehrende, bald der Begehrte;

Bald glückt es mir die Sinne zu besiegen,

Bald siegen sie, und ich muss unterliegen;

Bald bin ich Joseph, der in Schönheit pranget,

Bald bin ich Jacob, der in Trauer banget;

Bald reisst mir Liebe die Geduld in Stücke,

Bald füg' ich mich, wie Job, dem bösen Glücke;

Bald bin ich hohl, wie Flöten, bald erfüllet,

Bald sinnlos, und in Weindunst bald gehüllet;

Bald macht ein Goldstück mich in's Feuer rennen,

Bald eine Silberbrust wie Gold mich brennen;

Bald reite ich auf eines Dives* Rücken,

Bald neidet Job die Reize die mich schmücken;**

Bald richtet sich auf Andacht all' mein Streben,

Bald hab' ich sünd'gem Frevel mich ergeben;

Bald bin ich Wolf, bald Löwe und bald Schlange,

Bald bin ich Mensch, und liebe und verlange;

Bald bin ich strenge, hässlich, rauh von Sitten,

Bald bin ich reizend, sanft und wohlgelitten;

Bald ist von Schande frei des Weisen Leben,

Bald ist er ganz der Schande preisgegeben.

* Die Dive sind in der persischen Mythologie ungefähr was die Titanen
in der griechischen sind. Sie sind die Satelliten Ahriman's, des bösen
Urgrundes, und eine Art von boshaften, grausamen, hässlichen
und ungestalteten Geschöpfen der Einbildungskraft.

** Job ist nicht allein durch seine Geduld im Leiden, sondern auch durch
seine himmlischen Reize ein Gegenstand der Verehrung bei den Islamiten.
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