Maulana Dschelaleddin

Rumi

(1207-1273)

(in der Übersetzung von Vinzenz von Rosenzweig 1838)



Das Bild, das du im Schönheitsglanz gesehen,
Hat seinen Ursprung nur im Unbestand;
Doch schwand das Bild, das Urbild wird bestehen:
D'rum löse muthig deines Grames Band!

Das Abbild das dich Wonne liess empfinden,
Die holde Rede die dein Ohr entzückt,
O traure nicht, wenn sie so schnell entschwinden:
Sind sie durch Dauer nimmer doch beglückt!

Kann jener heil'ge Urquell nicht versiegen,
Wird auch der kleine Quell nicht wasserleer;
Wenn Beide keinem Wechsel unterliegen,
Wo stammt denn deine stete Klage her?

Du sollst den Quell in deiner Seele schauen,
In ird'schen Dingen aber Bäche sehen.
Der Dauer sollst du dieses Quells vertrauen,
Aus dem die Bäche willenlos entstehen.

Seit dem verhängnissvollen Augenblicke
Als du betreten dieses Daseyns Welt,
Ward dir, durch das allwaltende Geschicke,
Zum Klimmen eine Leiter hingestellt.

Du warst vom Anbeginne ohne Leben,
Dann hauchtest du ein Pflanzenleben ein;
Ein thierisch Leben ward dir dann gegeben;
Kann diese Wahrheit dir verborgen seyn?

Bald hatte sich der Mensch aus dir entfaltet,
Der zu dem Glauben Wissenschaft gesellt.
Zu welchem Thon sich doch der Leib gestaltet,
Der nichts als Staub und eitlen Tand enthält!

Und bist du lang genug ein Mensch gewesen,
Wirst du ein Engel in der Engel Reih'n,
Und fern von hier, zu höh'rer Lust erlesen,
Wird nun der Himmel deine Wohnstatt seyn.

Selbst Engelslust darf dich zurück nicht halten,
Und tauchen sollst du kühn in jene Fluth,
Wo sich dein Tropfen wird zum Meer gestalten,
Das hundert Oceane fasst voll Gluth.

Darum, o Sohn, steh' ab von deinem Treiben,
Und sprich aus treuer Seele hochbeglückt:
»Stets jung und kräftig kann die Seele bleiben,
Wenn auch das Alter schon den Körper drückt.«
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