Else Lasker-Schüler (1869-1945)
Abessinische Judenpriester
und griechische Mönche |
Das Gebet
Wenn ein Mensch inbrünstig betet, tritt seine Seele an die Pforte des
Körpers. Im Gebet zu sterben, erspart der entkörperten Seele den Abschied,
nicht nur vom eigenen Leibe, auch den endgültigen vom Mutterleibe der
Welt. Dem zu entsteigen, heißt: Sterben. Und doch handelt es sich nach
himmlischen Gesetzen um ein neues Geborenwerden. Die Hülle zerreißt, aber
die ewige Odemknospe lebt ein ewiges Leben, überlebt ewiglich den Tod.
Denn aus der Schöpfung der Welt entspringt die Quelle des
Geborenwerdens! Die abfallende, verfallende persönliche Körperwelt
entäußert ihrer weiterlebenden göttlichen Kleinodie, nicht das persönliche
Daseinsbewußtsein. Aber umgekehrt. Die Seele, die ihren Körper
verläßt, löscht jedes Bewußtsein ihrer Hülle aus. Hingegen der Schlaf den
Körper vorübergehend zu betäuben pflegt; und die Seele des Geschöpfes sich
zu entfernen vermag, schon aus lebzeitlicher Leibesumhüllung. Der Traum
ist der Seele zerronnenes Bildnis, das sie beim vorübergehenden Verlassen
himmlischer Abenteuerlust ihrer schlummernden Heimat zurückläßt. Des
Schlafes Dunkel also gibt der Seele Gelegenheit zu entkommen, immer wieder
ihre Ferien anzutreten. Wachbleibender Körper verhindert ihre Reise. Die
Seele aber fordert gewaltsam ihr Recht. Ihre Nimmerwiederkehr büßt der
Körper mit dem Verfall. Aber den verbotenen Weg, der Himmel und Erde
verbindet, betrat noch nie, ohne den Willen Gottes, je eine Seele. - Der
Mensch, der lau sein Gebet gewohnheitsgemäß verrichtet, betet, um gebetet
zu haben, wird nie ein Herzbreit von sich zurücklegen, und nimmermehr
werden ihm die engelhaften Vorboten der Unendlichkeit schon auf Erden
begegnen. Das Gebet bedeutete den Propheten die höchste Zeremonie; die
ihnen begegnenden Wunder des Himmels weihten sie zu Heiligen. Allem
Beweisbaren geht Unbeweisbares voraus und umgekehrt. Wehe aber dem
hungernden Herzen, das bewirtet wird von eines schmalen Verstandes
geizigen Truchseß. Auf dem Erzplan der Schöpfung bewegt sich jedes Ding in
der Welt auf des Zifferblatts kreisender Urthese nach dem Ruf des
Urkuckucks aus dem Universum. Aber ein Ohr, das nicht lauscht dem
Weltticktack der methodischen Welt, kommt entweder zu früh oder zu spät.
Gott weiß immer, wieviel Uhr es geschlagen hat. Seinem Freitag zu
begegnen, der mit einem gemeinsam betet, gräbt zwischen den Straßen der
Zeit in den Dschungeln der Ewigkeit, bedeutet das Glück eines
gottsuchenden Menschen. Mit diesem auf göttliche Mine zu stoßen, krönt das
Ziel der mutigen, religiösen Robinsonade. Unsere Erde wie jede, die wir
leider nur von ferne, verschleiert von Feuer, betrachten können, sind
ebenfalls vom Körper, wie wir Geschöpfe es sind, umschlossene Ewigkeiten.
Ewigkeit in Zeit gespannt.
Diesem System in der Schöpfung des Ewigen verdanken wir, gemischt
mit Traurigkeit über den Verlust unserer erleuchteten paradiesischen Welt,
das Dasein unserer Welt. Frisch von der Ewigkeit gepflückt,
leuchtend in der Blüte, hieß sie: Paradies. Ich sagte schon einmal in
einer Dichtung, daß ich den Weltenkörper und den Körper der Geschöpfe,
überhaupt alles Körperliche für eine Illusion der Seele halte, eine
Kristallisierung der sich heimsehnenden Seele nach dem Geborgensein in
Gottvaters Hand. Denn jede Seele ist Ewigkeit und möchte, losgebunden von
der Urewigkeit, sich bergend in einen Rahmen stellen. Des Tieres Seele
hingegen hängt irgend noch blind in seiner Körperillusion am Kosmos, noch
nicht irdischer Verantwortung übergeben. Der Dichter im Zustand des
Dichtens erlebt illuminiert den Halbschlummer des Tieres, aber auch der
Pflanze und des Steins. Die Dichtung bettet sich neben Gott. Wie könnten
sonst die von der Dichtung vergewaltigten Auserwählten die unmenschliche
Verantwortung der Weisheit auf sich nehmen? Der Prophet, des Dichters
ältester Bruder, erbte die Zucht des Gewissens direkt vom Schöpfer. Die
Zucht des Gewissens aber adelt auch den Dichter, und der geringste
Fehltritt rächt sich naturgemäß in der Glaubwürdigkeit seines Verses. Die
Dichtung ergibt also vom erwählten Dichter niedergeschrieben: den Extrakt
höherer Wahrheit. Die Dichtung ist eine Gunst, die der Dichter auf sich
nimmt. Und selbst das mit Gott hadernde Gedicht kniet vor Ihm. Der Dichter
weiß wohl, es dauert ein Leben der Vertiefung und vorangegangener
Vertiefung Leben, bis er zwischen den Weiten der Welt nur ein noch
"leuchtendes Liebeswort" findet, das seine Seele vorübergehend schon auf
Erden vom Star erlöst. Aber dieses Wunder der Erleuchtung weht über jedes
Menschenherz, der Liebe Sturm über seinem Blute und treibt vom Grund den
Rest seines Urblutes Gold an seinen Strand. Urblut ist noch erhaltenes
Gold, das, wenn es sich mit dem Urblut des liebenden Menschen begegnet,
einen Glückszustand hervorzaubert. Urblut und Urblut ergeben: Paradies.
Leuchtend und erleuchtend erkennen sich nur Menschen im Rausch der Liebe.
- Den großen Vögeln sehe ich nach - sie können uns nichts erzählen aus dem
grünen ewigen Bilderbuch, zwischen dessen Laub sie schweben; aber durch
ihren Gesang erwachen die Blumen an den Zweigen und die Keime wollen
hervor. So erfaßt der Mensch das Tier, da es mit einem seiner Pole noch
dumpf in der Urwelt ruht mit all seinen Begierden und Leidenschaften,
niemals ganz und gar; der Rest heißt Geheimnis!
Denn der Mensch lebt abgelöst vom Kosmos, vom Umriß der Urwelt in
der Umwelt: Zeit. Der Mensch lebt in der Zeit, das Tier in der Natur und
die Pflanzenseele in ihrer einheitlich grünen Blattillusion. Wie oft
geschieht es, daß eine Baumart eingeht im fernsten Osten, zur selben Zeit
dieselbe Gattung Baum in jenseitiger Himmelsrichtung zu welken beginnt.
Das zeugt von der Säfteverbundenheit der Pflanze, die über Hecke und Hecke
sich weiterschlingt. Nur selten ahnt der Mensch des Nebenmenschen Lage,
jedenfalls zwingt ihn die Hellseherei nicht mit zum Verfall. Eher noch das
Tier; es lebt in der Vegetation, der Mensch in der Atmosphäre.
Tausendfältig verzwiefachte der Schöpfer das Tier und die Pflanze schon
auf dem Plan der Schöpfung. Den Menschen aber brach er, geschaffen, ins
leuchtende Welteden gestellt, in zwei Hälften. Und so drängt es den
Menschen, sich immer zu teilen, um sich wiederzufinden.
Ich wollte, ein Schmerzen rege sich
Und stürze mich grausam nieder
Und riss' mich jäh an mich.
So kam's, da die Menschen sich schließlich zu Völkern verschnitten,
getrenntes Menschtum sich wieder in Liebe gesetzmäßig dem Buche der
Schöpfung vereint.
Es leben Rand an Rand einträchtig Land und Seen -
Wie kommt es, daß der Mensch vom Menschtum bricht,
Sich wieder sammeln muß im höheren Geschehen?
Teilbar ist nur ein Geschöpf entbunden vom Koloß der Materie. Es bleibt
dem Menschen nicht erspart, Rechenschaft abzulegen vor Gott. Das Tier,
noch zur Hälfte ungeboren im blinden Urbewußtsein, verhält sich
verantwortungslos. Darum ist der Mensch wohl, seiner restlosen Abtrennung
wegen, die vollendetste Schöpfung Gottes, aber demzufolge auch
seelisch-geographisch am entferntesten gelegen von Gottwegigkeit; jedoch
durch der Perspektive Uebersicht er sich ganz und gar die himmlische
Sphäre erobern kann. Das Tier wie die Pflanze, auch der Stein, noch
gewissermaßen an der Schnur der Schöpfung hangend, zählen zu den noch
nicht ausgetragenen Schöpfungen zwischen himmlischen und irdischen Ozonen.
Unsere Welt leuchetet auf dem Globus Gottes im Urlicht. Und erst ihre
Verfinsterungen gebar die Sünde, die Folge großer Verwirrungen. Den
"Sünder" verantwortlich zu machen seiner Sünde, ist also unlogisch - und
gerade die Propheten nahmen sich der "Verirrten" an.
Paradies wurde Erdball, aber unsere blindgewordenen Gedanken und
Handlungen bewegen sich in den Welttapfen Jahrhunderttausender. Die
Kabbala lehrt von der "ruhenden Gottheit". Nur Gott allein besitzt die
Kraft, den gleichmäßigen wie stürmenden Gang der Welt zu lenken. Man denke
an wetternde Landschaften großer Künstler, in methodischem Umriß gehalten.
Das kennzeichnet ja der Bilder Wert! Des Menschen vollständige Abtrennung
von der Ewigkeit, ausgetragen vom Universum, unterscheidet ihn vom Tier
und von der Pflanze und vom Gestein und macht ihn zum Herrn der Welt. Des
Heiden Vergötterung zum Tier beruht auf des Tieres Mystifikation.
Begreifliches und Unbegreifliches zum Anbeten vereint. Noch lallend
kindhaft spielt dieser Urvölker Glaube: Bangemachen. Man denke an die
Sphinx und an den geheimnisvollen Götzen mit dem Vogelkopf: Osiris. Wie
alt und stark unterschied sich das Volk Jehovas, des Unsichtbaren Einigen
Gottes: Volk, schon von allen anderen Völkern in ihrer jenseitigen
unsichtbaren Religion. Die Götzen sind ein Greuel dem Gotte, der sagte:
"ICH BIN, DER ICH SEIN WERDE." Im Rausch der Dichtung wird wohl jeder
Dichter einmal zum Heiden - auch ich, als ich mein Gedicht, Jakob,
dichtete:
Jakob war der Büffel seiner Herde,
Wenn er stampfte mit den Hufen,
Sprühte unter ihm die Erde.
Brüllend ließ er die gescheckten Brüder,
Rannte in den Urwald, an die Flüsse,
Stillte dort das Blut der Affenbisse.
Durch die müden Schmerzen in den Knöcheln
Sank er fiebernd vor dem Himmel nieder.
- Und sein Ochsgesicht - erschuf - das Lächeln.
Am gewaltigsten wirkt das Gedicht auf urwüchsige Leser oder Zuhörer.
Allerdings auch auf Aegyptologen. Der Götze wirkt, Gott will walten. Es
steht in der Kabbala . . . "Wenn der Stier lächelt, wird das Lamm
geboren." Diese Offenbarung vergewaltigte mich in Vers. Eitelkeit kommt
hier nicht in Frage, und ich beteure, nie im Leben vor meiner hebräischen
Ballade: Jakob je in der Kabbala gelesen zu haben, noch von ihrem Inhalt
gewußt durch Hörensagen. Ich beuge mich demütig vor meiner heiligen
Erleuchtung. - Das Tier und die Pflanze, werden sie einmal abgelöst von
der Ewigkeit sein und ihrer vollbewußt zwischen uns Menschen ein Leben
führen? Der große Tierheiligenmaler, der blaue Reiter, der Messias der
Tiere Franz Marc, liebte die Tiere so, daß er ihrer wissend wurde; vom
keuschen Totschlag sprach, wenn der Tiger sich die Gazelle vom Fels holte.
Das Tier tötet aus unkompliziertem Hunger, der Mensch bringt den Menschen
um. Des Tieres Trieb, noch ungewürzt, aber auch von Rücksicht nichts
ahnend, wälzt noch mit den Elementen der Schöpfung den Koloß der Welt. Das
Bewußtsein des Tieres ist der Trieb, ihn zähmen zu wollen, so paradox es
klingen mag, geschmackloser Frevel. Des Tieres Ewigkeit versuche man nicht
zu kitzeln, immer bleiben es schmerzliche, jämmerliche Frühgeburten,
störende Einmischungen im Willen des Schöpfers. Dressiere nicht! Aber sei
gut zu den Tieren!! Gott ist ihr Zeuge.
Gott rollt ruhend durch die Welt, Gott ist der Wegweiser und die
Schwelle. Immer müssen wir über Ihn und die Bewegung im Menschen bewegt
sich nach dem Bewegen des Schöpfers. Der abweichende Mensch, der im Takte
des Weltalls ungleich mitschreitende, verirrt sich im System der Schöpfung und
gerät aus dem Gleichgewicht. Jede Störung im Weltall ist eine Folge des
Nachbleibens oder Voreilens im Takte Gottes. Eine Gleichgewichtsstörung
die Folge des abweichenden Geschehens der Methode der Welt. Das
vorbildliche Tempo, nach dem sich der Mensch seit seiner Geburt richten
soll, bewege wieder die Menschheit! Dieses Tempo zu erlangen, vertiefe man
sich in Gott, in diese - - Ewigkeitspolitik. Leben bedeutet Wohlstand. Vor
allem im Weizen der Seele, aber auch im Gemeingut der Früchte und des
Brotes. Denn jedes Geschöpf barg ein mütterlicher Schoß, der den von ihr
geborenen Leib vertrauend in den Allmutterschoß der Welt legte. Aus
drei Hüllen besteht das irdische Leben, die wir durchbrechen müssen, um
wieder ins Freie zu kommen, zu Gott. So ereignet sich unser Leben zweifach
umhüllt in zeitlichen Ewigkeitsschößen. Umschlossen und geborgen noch in
äußerster körperlicher Weltillusion: Verborgen wickelt sich das Erdenleben
ab. Und doch sind wir Menschen Gottes freie Ableger. Jedes wahre
Gebet ist eine Konzentration . . . Ich und Ich. Und aus dieser
Selbstverbindung entsteht doppelte Kraft. Ja die Propheten rissen an Gott!
wie sie die Wahrheiten donnerten in die Herzen der Völker. Und so oft
verströmten göttlich den heiligen Paragraphen in unzähligen Versen. Die
gewaltigen Falken Gottes stießen schreiend auf Ihn und erlebten schon in
ihrer Leibes-Illusion Echo gefangener Ewigkeit, Gott die Nichtumfaßbare.
Ich möchte dem Leser eine ruhige Stunde schenken mit meinem Gebet, in das
ich wie in eine Girlande ab und zu eine seltene Blume stecke. Ihr Duft
soll ihn nicht betäuben, aber erwecken. Wach sein zieht Gewissen nach
sich. Gott ist der Wache! Wir Menschen aber verschütten unser
Bewußtsein gegenseitig bis zur Entartung und besitzen doch den Diamanten
der mannigfaltigsten klarsten Bewußtseinsmöglichkeit. Gottheit ist eine
"ruhende Gottheit". Alle Leidenschaften ruhen in Seiner heiligen Siesta.
Aus: Else Lasker-Schüler Werke und Briefe Kritische Ausgabe
Band 4: Prosa 1921-1945 Nachgelassene Schriften
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2001 (S. 210-216)
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