Else Lasker-Schüler (1869-1945)
Abessinische Juden |
Meine Andacht
Wir schließen am Abend die Augen ohne Furcht; den kurzen, vorübergehenden
Tod gewöhnt vom ersten Tage der Geburt an. Manche beten, bevor sie
einschlafen, selten ein einziger mit dem Gedanken des Nichtmehrauferwachens.
Würde der wirkliche Todesschlaf öfters oder auch nur einige Male das Leben
des Menschen abschließen, fürchtete der Todesschläfer ebenso wenig den
vorübergehenden Tod wie das vom Schlaf unterbrochene Leben; und den Tod
als Begleiter betrachten, der wieder heimfindet ins Erwachen. Der Tod aber
ist das Endgültige, das Unaufhaltsame. Ueber seinen verbotenen Weg kann
man nicht zurück, denn der ist kein grünender Pfad oder eine gepflasterte
Straße, er ist der verbotene geistige Weg, der ins ruhende Nichts führt.
Die Morgenfrühe erweckt die schlafende Seele im warmen Körper und
beschenkt den Erwachenden mit neuer Spannung. Aber wer erweckt den
Entschlummerten und beschenkt ihn mit der unvergleichlichen Gabe ewigen
Lebens, dem geheimnisvollen Preise der Erlösung? Immer arbeitet jedes
Geschöpf, jedes Ding auf Erden - lebendig zu bleiben, faulenzen gibt es ja
nicht, da Atmen die keuscheste Urarbeit, ja die Urtugend der Welt
bedeutet. Alles, was da ist, haftet an der Odemschwinge der Schöpfung. Und
der endgültige Tod hieße für das Herzwerk des Urorganismus einen
unersetzlichen Verlust, wenn nicht Geborenwerden und Sterbenmüssen Hand in
Hand ginge, nur Austausch bedeutete. Odem ist Gottseele, die wir ein- und
ausatmen, die Welt lebendig zu erhalten, in Bewegung zu setzen. Andere
Beschäftigungen wie Atmen ist im Gottgrunde überflüssig. Durchdrungen von
dieser Wahrheit ergibt sich der Erzfromme dem geistigen Trunke im Leben
schon und ruht wie der Erlöste in der Gottheit. Seinen teuren
Entschlafenen erlebt der Ueberlebende verschmolzener und mannigfaltiger,
da er ihn ein- und ausatmet, immerfort die erlöste ruhende Seele erlebt.
Ich habe mich befleißigt, nicht nach Gold aber nach Gott zu graben,
manchmal stieß ich auf Himmel. Ich habe nach dem Ewigen gegraben, nicht
aus verwegener Ueberhebung, aber aus religiöser Abenteuerlust. Darum
schlich ich mich fort aus erstickenden Boudoirs und Ateliers, zwischen
dessen Wänden man oft zur Unterhaltung Gott in Metaphysik gerahmt
herunterholte, wie eines der Gemälde von der Hand des gastlichen Malers.
Jahre las ich die Abende einsam in den beiden Büchern, die im Jenseits
gedruckt worden sind. Nicht, wie man Reihe auf Reihe zu lesen pflegt, aber
über Wege schreitend mit den Menschen der Urerzählungen, die die Wurzel
legten zur Menschheit. Wer so den Stoff der Testamente zu sich nimmt, der
hat vom Brot des Lebens gegessen. Mehr vermag der Bibelmensch dem Enkel
nicht zu geben, als das Licht im Wort zu reichen. Und als mein
unvergeßlicher lieber Junge zu mir sagte: "Morgen oder übermorgen werde
ich sterben . . .", nach einer Weile mir mit inniger Stimme beteuerte: ".
. . Du bist stark, das wußte ich immer, aber daß du so stark bist, von mir
den Tod Monate fernzuhalten, dafür bin ich dir dankbar . . ." gedachte ich
des heiligen Mannahs, das ich gegessen habe. Mein Junge hatte sich in den
letzten Wochen seines Lebens vertieft im Fallen des Laubes, und oft
begleitete er leise die scheidende Sonne, ihr Gold schien ihm das
wertvollste der Welt. Ein mächtiger Baum stand vor dem Fenster. Sein Laub
formte sich im Sommer zu einer Kuppe. "Zehnfamilienbaum" scherzte ich
manchmal. Die Vögel kamen und flogen wieder fort, Würmer zu suchen für
ihre jungen Vögel. Einmal blieben sie alle gebannt auf den Aesten sitzen.
Eine Anzahl blaubekleideter Sommerkinder zogen singend an dem lauschenden
Baum vorbei, und die älteren Vögel belehrten die jungen, ein Stück Himmel
sei zur Erde geflattert. Am Abend guckten viele, viele kleine Augen oft
durch unser Fenster, direkt in den elektrischen Mond, den hielten sie für
einen besonderen Stern, der zwischen den warmen Wänden unseres Treibhauses
gedeihen müsse. Als es Oktober wurde, sahen wir sie selten noch auf den
Zweigen sitzen; die Krumen, die wir streuten, blieben liegen und wurden
hart über Nacht. Mein armer schöner Junge maß seine abgemagerten Glieder
an den entlaubten Aesten - in der Dunkelheit trug ich seine wehen Blicke
in meinen Augen klagend durch die Nacht. Am Abend, bevor er starb, empfand
ich ihn wieder zweijährig. Ich hätte ihn tragen können, einschluchzen
können in den Todesschlaf, so leicht war sein großgewachsener Körper
geworden. Ich dachte so viel an Gott, nun pflückte er den schönsten Stern
vom Feiertag meines Herzens. Ich rief ihn in Erwartung einer Antwort;
sprach er mit den ersten Menschen, mit den Erzvätern, doch die besaßen
noch ungetrübtes Gehör. Wenn ein Kind stirbt, weiß man, daß Raum und Zeit,
Zustand ist, und man vermag nur zu knien, sein Kind im Sterben zu
erreichen. Der Himmel ist es eben, die blaue Verklärung, die den
Sterbenden mit dem Zurückgebliebenen trennt. Dunkel sind wir Lebenden, so
dunkel, wir finden uns selbst nicht. In der Kabala steht, daß die Gottheit
sich entdunkelte, bevor sie die Welt erschuf. Es ist nicht anders zu
verstehen, als daß Gott einst einen Körper besaß wie wir, sich selbst
erlöste, was wir sterben nennen und ungehemmt der Schale, den Chaos
durchlichtete. Es ist so leicht zu behaupten, es gibt keinen Gott. Und die
Logik geht doch nur so weit, bei den meisten Menschen, beweisen zu können,
daß sie Hunger haben und dafür ein Bissen kaufen können. Wir, die wir
Hunger haben, sind zwar nicht imstande, Gott zu kaufen, oder vom Baum zu
pflücken, Frucht. Aber wir stehen in weiser Erwartung mit Sternen besetzt.
So war im Anfang eigentlich nicht das Wort, aber die Tat: Gott vom
sichtbaren zum unsichtbaren Gott sich verklärte. Das heißt: die
Gefangenschaft des Körpers verließ und geistig betreut den Weltraum. So
bin ich wenigstens nur imstande, den Körper des Menschen zu verstehen, den
Gott schuf nach seinem Urebenbilde. Und ich frage mich, warum man dieses
Urebenbild verachten soll, das fleischliche, die Hülle der Seele. Zumal
wir uns doch auch am Laube üppig gedrängt des Waldes freuen und jedes
einzelnen Baumes, warum an die Schönheit des körperlichen Tempels nicht,
der eine Kostbarkeit, das Allerheiligste, die Seele in sich birgt. Ich
baue auf Gott, denn wie oft legte ich meinen Schmerz und meine Freude in
seine Hand und nun mein Kind, mein Schmerz und meine Freude. Man spricht
nichts in den Wind, was nicht weitergetragen wird ins Unsichtbare. Es wird
aus Sommer Herbst und aus Winter Frühling und Leben aus Tod, und Sterben
steigt aus jüngstem Leben. Es muß einen Gott geben angesichts der
umsichtigen Weltordnung, aber auch dann, wenn die Sterne über die Erde
wandeln würden und die Bäume am Himmel wachsen würden. Und doch erleben
wir alles blind, durch Milchweisheit, die Weltweisheit. - Wir können nicht
gewaltsam Stufen überspringen oder herabgleiten, aber wir wollten
entdecken, nach Gott graben, bis wir auf ihn stoßen.
Aus: Else Lasker-Schüler Werke und Briefe Kritische Ausgabe
Band 4: Prosa 1921-1945 Nachgelassene Schriften
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2001
(S. 152-155)
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