Else Lasker-Schüler (1869-1945)
Die Pampas |
Paradiese
Ueberall hängt noch ein Fetzen Paradies. Gehst du auch daran vorüber - nur
einige Menschen erkennen wieder das schimmernd erhaltene Beet allererster
Heimat. Die ganze Welt war einmal . . . Paradies, eine glühende Melone am
Zweig der Ewigkeit und fiel Gott in den Schoss. Bis die Angst das erste
Menschenpaar erfasste, sich unsere paradiesische Welt verfinsterte und aus
dem Gleichgewicht kam. Angst dunkelt und Gleichgewichtverlieren erzeugt
angstvolle Finsternis. So erlosch die noch zarte Erlichtung im Kelch der
Paradieswelt. Blauangedeutet hing der Himmel über die junge Erde, auf der
Gott das Wasser von Land getrennt. Aus einer Handvoll Erde schuf Er nach
Seinem Bilde den ersten Menschen. Hellsieht wohl jeder einmal im Traum,
gar im Wachen jene Landschaft, die ihm vorbekannt erscheint. Aber sie
selbst ist es ja gar nicht, die den Träumenden oder den Wanderer
überrascht. Es blendet uns immer nur ihre ungetrübte paradiesische
Beleuchtung, die unser Auge verlernt hat zu ergreifen, das Urlicht, das
innige Gesicht des Ursprungs. Früher zogen wir manchmal zusammen durch den
Wald. Einmal brach einer von uns jäh zusammen mit dem Ausruf: "Hier war
ich ja schon einmal vor dem Leben!! . . ." Beinahe wäre er uns in den
kleinen plätschernden Bach gefallen; kein Hysteriker etwa, der ohnmächtig
wurde, aber ein aus seines Herzens kühlstem Grund hervorgeholter und
erwachter Skeptiker. Gerade den überwältigte lähmend der Urblitz der
Erkenntnis. Vom Einband der Welt holen sich die Menschen ihre
Weltanschauung. Es sind die Menschen mit der Weltanschauung. Aber die Welt
schaut uns an. Wie unkindlich sind eigentlich diese gelehrten Menschen mit
der Festlegung ihrer Welt. Nicht wahr? Nur der sich öffnet den
Möglichkeiten, zu dem kommen die Möglichkeiten, die Wandlungen der Zeit:
Gottvaterlandschaften. Ich will dir noch was erzählen. Eine Indianersage.
Kann sein, dass sie wahr ist. Der unwirsche Hirschkäfer bemerkte einmal
einen Baum zwischen anderen Bäumen stehen; sie waren eigentlich allgleich
und der Wind vermittelte ihre Unterhaltung untereinander. Und als der
Indianer dabei war, sich auf dem Gras unter den Aesten des einen Baumes
auszustrecken, schlängelte sich eine Flamme über seinen Körper, wie er nie
weisser und weiser eine vorher gesehen hatte. Da erkannte er, wie recht
seine kupferrote Freundin, "die beflaggte Windeseile" hat, wenn sie meint:
"Es gibt noch was, wovon wir keinen Schimmer haben". Wie gesagt, fast
jeder Mensch erlebt einmal das Gesicht des Paradieses. Ich meine, er
erkennt das liebende Licht ungetrübt über unserer Welt. Unser aller Korn
war ja schon gesäet am sonnigen Abhang der ersten Menschin und eine
Begegnung mit dem Paradiesfetzen bedeutet ein Wiedersehen der Heimat.
Ueberall hängt noch ein Ueberbleibsel Edens, selbst am Lärm der Stadt. Ein
lichtes Wort, ein magisches Blatt, die silberne Wolke hoch, in der
Kleinodie Liebender, im Kusse der Lippe liebentlang. Die noch lichte Welt
war die gestaltgewordene Liebe, die junge Gottheit Selbst. Wir alle suchen
nach dem Fetzen Paradies mit der Inbrunst unserer ganzen Kraft. Sein
verfinstertes Licht ist Gottesgeheimnis. Aber das Licht ist die Liebe, die
nicht ganz auszulöschen ist. Darum hängt überall noch ein Strahl
zauberisch, der deinen Kuss küsst. Hütte sich der Skeptische, dass sein
Fetzen Paradies nicht einschrumpft oder bittert auf seiner Wage. Liebe ist
nicht zu erwägen.
***
Wer nicht an einen Menschen sein Paradies verschenken kann, wird seine
Liebe auch nur notdürftig der Menge reichen. Darum prahle mir niemand mit
seiner Weltenliebe, mag auch der einzelne Mensch nur ein Blutsternlein
sein; oft zwar repräsentiert er ein ganzes Volk. Wer vom Paradies lernen
will, setze sich unter die Bäume, unter einem einzigen paradiesischen
Blatt lässt sich schon säumen. Sein ganzer Zweig sehnt sich nach dem
Ewigkeitslichte. Seiner Ehrwürden Pflanzlichkeit dem Ahorn bin ich zum
höchsten Dank verpflichtet für seine Paradiesweisheit: das winzige Leben
der Welt sehnt sich zu entdunkeln. Der Fisch erhellt den Fluss, der Berg
strebt nach der blauen Wolke Umarmung. Der Plan zur Welt trug schon im
Umriss der Liebe erkennendes Licht als Exlibris. Wir alle suchen nach dem
Fetzen Paradies, er birgt den ungetrübten Glanz der Welt der Liebe. Alle
möchten wir wie Weihnachtsbäume angezündet werden. Wenn schon ein
Lichtchen brennt, gar wenn wir ganz im Lichte stehen!! Im Keller aber
lagern schon die meisten Menschen, die Armen!! Selbst die Dirne sehnt sich
im Unterbewusstsein nach dem Paradiesüberbleibsel. Ihr Gewerbe ist nur
Vorwand. Die Liebe ist immer ein psychischer Besitz, die Sexualität ihr
Kelch. Die Sexualität zu verwerfen also, hiesse den Leib nicht achten, der
die Seele beherbergt. Irrig geschieht dies des öfteren. Aber zu verdammen
dünkt mich die Sexualität, die nicht nach der Liebe Paradies sucht, ebenso
der Körper, der seine Seele ungastlich birgt und verkommen lässt. Die
romantisch angehauchte Jungfrau, sollte es noch ein paar geben, verachte
nicht die nächtliche Draufgängerin; die zweite schon jagt im Grunde nur
dem Paradiesfetzen nach. Ich lobe mir den Don Juan, der durch alle Herzen
hindurch nur die eine Paradiesische sucht! Selbstverständlich gibt es eine
Liebe, zubereitet im Liebeslichte Gottostens, die des Kelches nicht
bedarf. Sie entsteht im Gespräch, das zum Konzert wird. Solcher
Engelwerdung war ich selbst Zeugin. Aus dem Worte der Gottheit prangten
die grossen Erzengel. Der Paradiesfetzen jeder Lichtnuance hinterlässt dem
Offenbarten bedeutsame Spur. Die Folge aber unserer verfinsterten
Paradieswelt ist: Kurzsichtigkeit bis zur Blindheit, Fehde, Herrschsucht,
Hass und Krieg, und das Erkennen der Liebe scheint nur mager über die Welt
und durch die Herzen der Menschen. Aber das Paradies lebt, wenn auch
heimlich, in der Ampel der Welt. Nur sein ungetrübter Strahl vermag die
Welt wieder zu erlösen, seine Liebe die Menschheit. Ja, wenn wir alle
bemüht wären, den kleinen übriggebliebenen Fetzen Paradies wieder zur
Entfaltung zu bringen, spielten wir bald im Paradiese. Aber wir Menschen
würden uns sicher schon gegenseitig umgestossen haben, wenn wir nicht wie
die Sterne ein astrologisches Gesetz befolgen müssen. Wir müssen doch wohl
schon von ehemals her ein Juwel zu bewahren haben, den Rubin der Liebe des
Paradieses! Ich kenne Freunde, die an Paradiesangst leiden, einer Angst,
die sich nur von der Verfinsterung der Welt ableiten lässt. Dumpfe
Gewohnheit unterschlägt der Mehrzahl der Menschen diese Urqual. Gelingt es
dem Gequälten, sich umzublättern in die Gegenwart, so genügt das Auflehnen
einer kleinen Blutwelle seines Herzens, die vergilbte Seite vom
Vorerinnern wieder aufzuschlagen. Und wie es unsere verfinsterten Welt
geschah, gerät auch der von Angst verdunkelte Mensch aus dem
Gleichgewicht. Wer diese Urqual erlebte, weiss, wie die Erde litt, als ihr
der Paradiesschein vom Haupte glitt.
Es fragte mich ein ganz reiner Mensch, ob ich lieben könne, wie
Gott liebe. Ich antwortete "nein". Aber er habe allein die Berechtigung,
mich danach zu fragen, denn in seinem Auge leuchte mein Paradies.
Aus: Else Lasker-Schüler Werke und Briefe Kritische Ausgabe
Band 4: Prosa 1921-1945 Nachgelassene Schriften
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2001 (S. 158-161)
|