Else Lasker-Schüler (1869-1945)
Prinz Jussuf liest seine Gedichte vor |
Freundschaft und Liebe
Wenn man keine Mutter mehr hat, in deren Liebe sich Himmel und Erde
verklären, wünscht man sich sehnlicher einen guten Freund, eine gute
Freundin. Man weiss allerdings, ist man sich Freund, wen man hat! An
Eigentreue erlebt man selten eine Enttäuschung; kann man sich auch manche
Dummheit nicht verzeihen. Trotzdem meine Dummheiten an Wert meine
Klugheiten weit übertreffen. Ich bin sogar stolz auf meine Dummheiten:
"Eine Seele und - kein Gedanke, ein Herz und ein Bienenschlag." Ein
bisschen langweilig wird man sich ja mit der Zeit, aber wer nehme mit
"Sich" nicht schon vorlieb? Und die Erfüllung aller Sehnsucht nach
Freundschaft bedeutet, die Begegnung seines zweiten Gesichts. Den Freund
verlangt es immer, im Freund sein Ebenbild zu sehen, wie der Liebende in
der Herzallerliebsten seine Vollendung. Erinnern Sie sich noch, wenn auf
dem Schulplatz der Schulgefährte keine Lust zeigte, an Ihrem Spiel
teilzunehmen? Nicht umsonst ärgerte man sich über den "Spielverderber"!
Man schliesst im Leben öfters, sogar - "ewige" Freundschaft, und ich
glaube auch nicht an die besungene, "einmalige" Liebe. Allerdings bewegt
sich jede neuaufgegangene in ihrer eigenen Farbe, doch stets in gleicher
Hingabe und Himmelhochjauchzen. Jedesmal, wenn ich dem Senor Paolo, dem
Konsul von Mexiko, am Lago Maggiore begegnete, schlossen sich, geblendet
von seiner olivengoldenen Ausstrahlung, meine ihn bewundernden Augen. So
liebte ich auch einmal einen "himmelblauen" Menschen. Ich kenne auch einen
heiligen Dichter, der mitten in meinem Zimmer auf meinem Teppichplatz
steht, ein lilaaussehender Fliederstrauch. Sind oder wirken nicht oft
Töne, rosa, braun und altsilber oder wie orangefarben? Wie ist das zu
erklären? Eines weiss ich, man sollte die Liebe königlicher beherbergen,
die Freundschaft indianischer. Jede Liebe, jede Freundschaft, die
bestanden wird, dient zum Vorbild der Welt. Die Liebe vor allen Dingen, da
sie nicht von dieser Welt ist, ihr Verbleiben nicht in unserer Macht
liegt. Die Flamme der Freundschaft hingegen, wir noch zu schüren vermögen.
Wie eine Sturmbraut naht die Liebe von Liebwest oder wie Palmensäuseln aus
der Morgenlandferne. Ein Komet ist mit allen Verheissungen, steht man von
ihr umarmt ganz im Lichte. Eine Sternschnuppe, überraschend, taucht die
Liebe unsichtbar in das willenlos verzauberte Herz. Eine Himmelsschnuppe!
Der Tropfen eines zerborstenen Himmels versüsst unser Blut und färbt unser
Herz blau. Die Liebe ist ein Zustand, in den man durch himmlische
Geschehnisse versetzt wird. Ein Zustand vor oder nach dem Tode:
Beglückende ins Herz sich senkende Atmosphäre. Ein Engel, zweier sich
verschmolzener Blicke. Die Freundschaft aber ist: Von dieser Welt. Wir
sind ihr gewachsen; in unserer Macht liegt es, sie aufblühen oder
verwelken, sie glühen oder erkalten zu lassen. Ihre Lebensdauer richtet
sich nach dem Zeiger des gegenseitigen Vertrauens. Die Liebe hingegen wird
vom Jenseits betreut. Sie hindern oder eigenmächtig anlocken zu wollen,
vergebliche Müh'! Die Liebe ist ein von allerhöchsten Höhen geweihter
Zustand, den man wie Duft über sich kommen lassen sollte. Man rühre an die
Liebe nicht . . . Den Freunden aber rate ich zu, sich ganz und gar ihrer
Freundschaft zu bemächtigen, ihr ist, wie man sagt, beizukommen!
Freundschaft lässt sich gewinnen, Freunde haben es in der Hand, ihre
Freundschaft zu befestigen durch Beweise gegenseitiger Treue. Ein
altbewährtes Sprichwort meint ausserdem: "Geschenke erhalten die
Freundschaft." Aber die Liebe lässt sich selbst nicht mit dem Rubin des
Herzens erkaufen. Und ich verspotte den Kavalier, der - handelt es sich um
den Erfolg reiner Liebe, durch Juwelen das Herz seiner Dame zu erobern
gedenkt. Die Liebende oder der Liebende sehnt sich, im richtigsten aber
liebreichsten Rahmen die Seele des Andern verkörpert zu besitzen. Für die
Kamelie über dem Herzen des Senors hätte ich die Hälfte meines Lebens
gegeben. Und nicht willkürlich heisst es: "Ehen werden im Himmel
geschlossen." Allerdings nur die vom Himmel zur Erde herbeigeführten. Zwei
sich küssende Augen bringen den Engel der Liebe zur Welt, den beseligenden
Zustand über zwei Herzen. Wie aber erklärt man sich eine einseitige,
sogenannte "unglückliche" Liebe? Eine Liebe, die unerwidert bleibt.
Vereitelt ein Unglücksfall, ein himmlischer natürlich, das hohe
Geschehnis? Bleibt ja auch in unzähligen Fällen Irdisches unvollendet.
Unterbricht etwa eine Gegenkraft den zauberhaften Liebesstrom vom
auserwählten Menschen zum auserwählten Menschen? Brachen dem Liebesengel
die Schwingen, oder wer hemmte das Glück, bevor es sich vollendete? Mit
Vorliebe spielt nicht selten der Bote der Liebe Zweibeiden einen Streich.
Kupido nannten die Griechen ihren kleinen Liebesgott, verkörperten den
Schützen des Herzens. Wir geben uns keine Mühe heutzutage mehr, ihn den
Schelm unverkörpert uns zu erklären und zu begreifen. Und doch verdankt
man ihm manchmal einen sogenannten Treffer. Wer hätte nicht schon einige
Menschen zu gleicher Zeit geliebt? Sterben lässt sichs "natürlichen Todes"
an der Massenliebe so leicht nicht, noch selig werden. So viel
Herzzerbrechen sich Liebende über die Liebe, so viel Kopfzerbrechen
pflegen sich Freunde über das Problem ihrer Freundschaft zu machen. In
Gefahren üben sie sich, einander beizustehen, im Spiel des Gesprächs mit
Worten geschickt zu gaukeln. Sie suchen sich nicht allein in ihren
Handlungen zu gleichen, auch immer wieder in ihren Wünschen, treue
Indianer, auf ein Kupferhaar, auf ein Schwarzhaar, aber in der Pointe
gleiche Farbe zu bekennen: Der blaue Jaguar! der gestreifte Tiger! Der
Freund erblickt den Freund im Rost der Einigkeit, die Liebenden schauen
sich gegenseitig im Spiegel des Bachs. - Der Liebe, der keine Ouvertüre
vorausspielt, mangelt der Verbeugung. Weiss dennoch zu hochachten, wenn
sich zwei Menschen, von der Kraft des Rausches überwältigt, in die Arme
sinken. Gibt es noch so etwas Elementares? Auch noch in leichtester Form?
Wer macht heut noch Fensterpromenade? Ich habe es mir nie abgewöhnen
können, aber - es sitzt niemand am Fenster. Geläufiger sind die
Fassadenkletterer! An gemeinsamer Gefahr und am Spiel zweier Freunde
stärkt sich die Freundschaft, aber nicht ein Jota mindert oder erhöht den
Grad der Liebe jedwedes Bemühen. Ausserdem gebricht es der heutigen Zeit
an Zeit für Ouvertüren oder Vorspielen der Liebe. Was hat im Grunde die
Liebe mit dem Fortkommen zu tun; längst überwundene Träumereien! Handelte
es sich noch um die grosse Freundschaft, um Freunde, die sich gegenseitig
fördern. Und ich kann es doch nicht lassen, auch von der Liebe zu
sprechen, ist sie inbrünstig, welcher Art auch, hört!! so krönt sie die
Welt. Man sollte sich bewusst werden, der Wunderblume, - die am Rande oder
inmitten des Herzens aufgegangen, ihr Hauch betäubt den Alltag und
entwertet alle unsere anderen Neigungen. Aus sich schöpft die Liebe ihre
Lebensfähigkeit, wie der Stern sein Licht, die Sonne ihre Wärme. Gerade
diese grosse Reinheit und Einheit erhebt die wirkliche Liebe über jedes
andere Empfinden, sie geht nicht auf Raub von Reizen aus. Man wundert sich
ja des öfteren, wie gerade dieser, jene lieben kann? Und umgekehrt. Die
Liebe ist eine Himmelsschnuppe, ein Stückchen zerborstener Himmel, das
unversehens ins Zweiherze fällt und himmelhochjauchzenden Zustand
verströmt. Furchtbare Krisen aber hinterlässt der Liebe Verfall. Den an
Liebe verarmten Menschen schlägt das Herz über dem Kopf zusammen. Er
dünkte sich gestern noch für den wahren Krösus dieser Welt, und der
Bankrott der Liebe trifft ihn schwer. Die Frau, die man himmlisch geliebt
und mit erlösten Augen, von Erdenschwere befreit, bis dann anbetete,
präsentiert sich nun in ihrer Sterblichkeit jäh! Solche Liebesschläge
gleichen Operationen, die grosse Narben hinterlassen. Ganz anders, wenn
sich das Band der Liebe nach höherem Willen löst, organisch wie Beete, die
sich vom Sommer trennen, zerfallen; die feiern mit dem verlustigen Herzen
des Sommertags liebenden Abschied. Ursache geht nie einer erkaltenden
Liebe voraus. Alle die hervorgebrachten Gründe sind Vorwände. Die Liebe
moralisiert ja nicht. Laster wird zur Tugend im Bereich der Liebenden. Von
der Liebe entblösst, die sich zur Königin erhob - wer bist du jetzt und
wer ist er in seinem Alltagsnebel, der noch vor kurzem wetterleuchtete?
Die Freundschaft aber ist aufzurichten. Zwei sich verlorengegangene, sich
wiederfindende Freunde, bauen über den Spalt ihrer Freundschaft eiserne
Brücken. Meinungsverschiedenheiten, die nicht Launen verursachten, stärken
das Rückgrat der Freundschaft. Die Laune aber ist der Freundschaft laues
Laster, Grosszügigkeit des Bündnisses Tugend. Freunde bekommen sich, wie
man sagt, über! Falls sie keine gemeinsamen Interessen zur Unterhaltung
finden. Den Liebenden hingegen fallen Mond und Sterne in den Schoss und
schweigen . . . Die Liebe gedeiht am besten unter der Knospe des
ungesprochenen Wortes. Die Freunde müssen sich hörbarer mitteilen und
sehnen sich täglich ähnlicher zu werden. Die Liebenden unähnlicher;
gegenseitiges Bewundern; der Paragraph der Liebe! Ihn sollten die
Liebenden beherzigen. Immer wieder neu erschaffene Perspektiven schaffen,
den Flügel der Liebe den Raum noch erweitern. Stundenlang sass ich
schweigend mit dem "blauen Wundermenschen" - am Brunnen "vor dem Tore" -
und Verschmelzung traute unserer beiden Liebesherzen.
Ich möchte ewig schweigen
Einen Tod und ein Leben lang,
Wie in den Saiten der Geigen
Noch ungespielter Gesang.
Ich liebe die blauen Blumen
Im hohen Zittergras
Und deine blaue Seele
Unter blauem Gras.
Aber an meinen Freund, mit dem man sozusagen eingequasselt ist, schreibe
ich ähnliches in folgender Fassung:
Ich möcht' mich unterhalten
Mit dir von abends bis früh.
Komm! alles ist wieder beim alten;
Ich langweil' mich nämlich wie nie.
Ich liebe das Meer, das nasse,
In seinem Paradebett,
Und bist du nicht bei Kasse,
Ich pumpe dir das Billett.
Auch Ihrer Freundschaft verschreibe ich, sie auf die Probe zu stellen,
eine gemeinsame Reise. Wie man im gewohnten Tempo des Lebens nicht
erfährt, kommt oft im losgelösten Dahinsausen der Welt, die die Eisenbahn
bedeutet, ans Licht. Oder - der grosse Flug gelingt! Reiseverwandt kehren
sie beide heim. - Ueberdauernde Freundschaften, selten die tiefsten,
entstammen den Kinderjahren. Erinnerungsgolden hämmern mannigfache
Geschehnisse, zwei zu Mensch gewordene Kinder, zusammen. Die Folgen
verschiedenartiger Milieu- und Lebensführungen, vermögen die Jugendfreunde
nicht zu trennen, im Gegenteil, des Gereifteren Freundschaft verwandelt
sich seinem Spielgefährten gegenüber in Brüderlichkeit. Hingegen sich zwei
Menschen oft, die sich inbrünstig liebten, nach Jahren verständnislos zu
begegnen pflegen. Die Liebe bedeutet ihnen in der Erinnerung nur ein
überstandenes "Erlebnis". Wir aber, die wir die Liebe als Paradies
erkannten, fühlen, dass uns selbst noch seine Finsternis, das Erlöschen
der Liebe, - himmlisch verbindet. Die Liebesfinsternis des Herzens erlebt
jeder Mensch einmal im Leben. Dass man nicht an der Folge stirbt, begreife
ich bis heute noch nicht. Eben noch von der Liebe besessen, grundlos schon
von ihr vergessen! Augen, die mir Heimat waren, verschliessen sich für
ewig. Der bleierne Morgen der Gleichgültigkeit geht rücksichtslos über
meinem Leben auf. Wir trennten uns, da es kühl in unseren Herzen wurde und
dunkel . . . Diese Ursache allein erklärt eine natürliche Trennung. Darum
schon ist die Liebesehe, ob wildblühend oder umzäunt, die eigentliche
Vernunftsehe. Wer vermag noch zu lieben mit der Liebe, wie sie vom Himmel
fällt? Und wer kann noch Freund dem Freund sein?
Aus: Else Lasker-Schüler Werke und Briefe Kritische Ausgabe
Band 4: Prosa 1921-1945 Nachgelassene Schriften
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2001
(S. 182-187)
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