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      Anna Karbe(1852-1875)
 
 
 Inhaltsverzeichnis der Gedichte:
 
        
      
      Es senkt des Frühlings süßer 
      Friede (Frühlingsfeier)
      
      Es legt die Welt all' ihre 
      Sorgen (Abendstille)
      
      Vergißmeinnicht, du siehst 
      mich an (Vergißmeinnicht)
      
      Der Frühlingswind spricht 
      (Frühlingsleben)
      
      Was mögen wohl die Vögelein 
      (Der Frühling kommt!)
      
      Nein, Schwälbchen, nein, ich 
      fange Dich (Im Schwalbennest)
      
      Der Lenz war erschienen 
      (Vorbei)
      
      Die Liebe ist kein leichtes 
      Gut (Der Liebe Glück)
      
      O Sonnenschein, mein Herz ist 
      wach (Frühlingssonne)
      
      Kennst Du die Rose, die vor 
      Zeiten (Die Himmelsrose)
      
      Herr, gieb mir auch im 
      tiefsten Schmerz (Bitte um ein fröhliches Herz)
      
      Seine Flügel breite (Wunsch)
      
      Herr, mache Du mein Herz 
      bereit (Herzenssehnsucht)
      
      Gieb mir Ruhe in die Seele 
      (Er ist unser Friede)
      
      Herr, ich weiß nicht, was ich 
      will (Um ein stilles Herz)
      
      Mach' unsre Herzen still und 
      stark (Wie Gott will)
      
      Ich wollt', ich könnte 
      fliegen (Hinauf)
      
      Ich möchte halten jene Freude 
      (Freude im Herrn)
      
      Lehre mich die Wege finden 
      (Ich will Dich fragen - lehre mich)
      
      Behüte unsre wilden Herzen 
      (Den Frieden lasse ich Euch)
      
      Mein Gott, ich richte meine 
      Bitte (Um ein festes Herz)
      
      Ziehe mich (Ziehe mich zu 
      Dir!)
      
      Erhalte, Herr, mir frei den 
      Blick (Freier Blick)
      
      Führe meine Seele (Zum Herrn 
      hin!)
      
      O, höre auf, Dein Herz zu 
      richten (Sei still)
      
      Wir warten, weil wir müssen 
      (Warten in Geduld)
      
      Geduld ist nicht die 
      thatenlose Stille (Geduld)
      
      Herr, wir heben unsre Hände 
      (Flehen und Antwort)
      
      Sei still, mein Herz (Sei 
      still, mein Herz)
      
      O Gott, Dein Wille (Bitte)
      
      Herr, wie Du willst, daß ich 
      es trage (Ergebung)
      
      Laß Deine Hand mich fest 
      erfassen (Ob ich schon wanderte)
      
      Wie sich die schwarzen Wolken 
      thürmen (Das Fischermädchen) 
      
 
 Frühlingsfeier
 
 Es senkt des Frühlings süßer Friede
 Sich mit der Abendluft herab.
 Es legt, vom eignen Glanz so müde,
 Die Sonne ihre Strahlen ab.
 Da breitet sich so tiefe Stille
 Rings auf des Frühlings Abendruh',
 Und segnend deckt des Vaters Wille
 Die Welt mit süßem Schlummer zu.
 
 Rings schweigt der Wald im Frühlingsschleier,
 Noch sind die Blüthen nicht erwacht,
 Noch schmettert nicht zur Abendfeier
 Die Minnesängerin der Nacht.
 Es läßt der Frühling tief verborgen
 Die ersten blauen Veilchen blüh'n,
 Er webt sein Kleid zum Hochzeitsmorgen
 Aus seinem frischen jungen Grün.
 
 Und durch des Frühlings süße Ruhe
 Klingt eine Stimme, wohlbekannt;
 Sie spricht: Sei still, zeuch aus die Schuhe,
 Denn wo Du stehst, ist heil'ges Land!
 Erkenne Deines Gottes Tritte,
 O öffne freudig Herz und Sinn!
 Er wandelt durch des Frühlings Mitte,
 Er bringt den Frieden, - nimm ihn hin!
 
 aus: [Anna Karbe] 
      Immergrün
 Lieder einer früh Heimgegangenen
 Mit einem Vorworte von Emil Frommel
 Berlin Verlag von Wiegandt & Grieben [1876] (S. 3-4)
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 Abendstille
 
 Es legt die Welt all' ihre Sorgen
 Zur Ruhe in die Hand der Nacht.
 Da schlummert bis zum andern Morgen,
 Was sie geträumt, was sie gedacht!
 
 Da regt sich träumend wie die Rose,
 Wenn sie des Frühlings Kuß versteht,
 Die Sehnsucht, jene schrankenlose,
 Die heimwärts schwindet im Gebet.
 
 aus: [Anna Karbe] 
      Immergrün
 Lieder einer früh Heimgegangenen
 Mit einem Vorworte von Emil Frommel
 Berlin Verlag von Wiegandt & Grieben [1876] (S. 4)
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 Vergißmeinnicht
 
 Vergißmeinnicht, du siehst mich an,
 Als hätte ich dir weh gethan;
 Du blickst aus deinem Perlentau
 So träumerisch und himmelblau, -
 Doch was die leise Thräne spricht,
 O sag' es mir, Vergißmeinnicht!
 
 "Ich bin verwandt mit jenem Sterne,
 Der an dem Abendhimmel steht;
 Drum blickt mein Auge in die Ferne,
 Dorthin, wo meine Sehnsucht geht!
 
 Dort oben jener blaue Bogen
 Ist meines Samenkornes Stamm;
 Drum ist mein Herz hinauf gezogen,
 Dorthin zurück, woher ich kam.
 
 Und seh ich Nachts die Sterne scheinen,
 Die meinem Herzen noch verwandt,
 So muß ich oft vor Sehnsucht weinen
 Nach meinem blauen Heimathland.
 
 Die Sonne schaut zur Abendstunde
 Als Scheidegruß mir ins Gesicht.
 Sie bringt mir aus der Heimath Kunde
 Und flüstert: O vergiß mein nicht!
 
 Ich blühe stille fort indessen,
 Zum Himmel blickend unverwandt,
 Und werde nimmermehr vergessen
 Mein liebes blaues Vaterland.
 
 Und wird der Tod mich einst entfärben,
 Versenkt mich bald der Sonne Licht,
 So seufz' ich hoffend noch im Sterben:
 Mein Vaterland, vergiß mein nicht!"
 
 aus: [Anna Karbe] 
      Immergrün
 Lieder einer früh Heimgegangenen
 Mit einem Vorworte von Emil Frommel
 Berlin Verlag von Wiegandt & Grieben [1876] (S. 4-5)
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 Frühlingsleben
 
 Der Frühlingswind spricht:
 Schneeglöckchen schläfst Du noch?
 Schneeglöckchen höre doch!
 Ueber die Berge bin ich gekommen,
 Da hab ich ein süßes Klingen vernommen.
 Dort in der Ferne, dort in der Weite,
 Hat schon begonnen das Frühlingsgeläute.
 Da hört ich ein heimliches Singen und Klingen
 Wie Frühlingsahnung die Luft durchdringen.
 Und wie ich mich bücke und wie ich mich neige
 Zur heimlichen Stelle, durch Dornengezweige,
 Da sah ich ein Blümlein, so weiß wie der Schnee,
 Das läutete jubelnd: Nun Winter ade!
 Und wie es denn meinen Athem gefühlt,
 Da hat es lange mit mir gespielt,
 Da mußt ich von meinen Reisen sagen,
 Und Grüße hat es mir aufgetragen.
 Ich sollte alle die Schwestern wecken,
 Schlummernd unter den kalten Decken.
 Es ist auch wohl Zeit!
 Er ist nicht mehr weit!
 Schon breitet der Frühling die wärmenden Flügel;
 Da sprossen die Berge, die Thäler und Hügel;
 Er ist auf dem Wege, der Frühling ist nah:
 Schneeglöckchen erwache! Der Frühling ist da!
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 Schneeglöckchen erwachet und schüttelt die Glieder,
 Und wie es sich schüttelt, da tönen die Lieder,
 Die Frühlingslieder, hin durch die Lüfte,
 Wie Rosenahnung und Veilchendüfte.
 Schneeglöckchen läutet, daß Frühling werde,
 Und sieht sich nicht um auf der kahlen Erde,
 Es läutet und läutet, und hat's nicht gesehn,
 Wie rings im Thale die Schwestern erstehn.
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 Das Veilchen kommt schüchtern und möchte noch nicht,
 Verdeckt sich mit Blättern das süße Gesicht.
 Doch wie ihm die Sonne ins Auge geschaut,
 Da wird auch dem Veilchen so warm, so vertraut,
 Und wie zu der Mutter mit wonniger Liebe
 Erhebt es zur Sonne die duftigen Triebe.
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 Du lächelndes Kind, noch kaum erwacht,
 So perlenumleuchtet vom Thau der Nacht,
 Da blühst du so kindlich, so lieblich und rein;
 O Blümlein, wer möchte wie du nicht sein?
 Ja Tausendschönchen, wie du so mild,
 Ein Frühlingsliebling und Frühlingsbild!
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 Da hebt das träumende Augenlicht
 Vom Bachesspiegel - Vergißmeinnicht.
 Es lächelt uns an so freundlich und mild,
 Ein Kinderauge, ein Himmelsbild.
 Es blühet und lächelt und fraget und spricht -
 O kannst du's verstehen? - Vergißmeinnicht!
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 Auf schwellendem Moose im duftenden Schatten,
 Da läutet ein Glöcklein auf glänzenden Matten,
 Maiglöckchen läutet und schüttelt die Locken;
 Es lächelt und jubelt und weinet dabei,
 Und Thränen hängen an allen Glocken,
 Vor Wonne und Liebe im seligen Mai!
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 Da plätschert's im Walde vom Hügel hernieder,
 - Hier ist es verklungen - dort plätschert es wieder,
 Da glänzt es wie Silber am sonnigen Tag,
 Da leuchtet und sprudelt ein seliger Bach.
 Es blühen viel Blumen auf Schritt und auf Tritt,
 Die flehen zum Bächlein: O nimm uns mit!
 Da werden die alten Steine zu Kindern,
 Und mögen dem Bächlein das Springen nicht hindern.
 Da jubelt das Bächlein im flüchtigen Lauf:
 Ich habe es eilig, o haltet nicht auf!
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 Und der bunte Schmetterling
 Fliegt zur königlichen Rose,
 Schaukelt sich im weichen Moose,
 Sagt der Lilie tausend Grüße,
 Bringt dem Veilchen Frühlingsküße,
 Sagt der Nelke: guten Tag,
 Zieht der bunten Tulpe nach,
 Bis vor Frühlingslust und Licht
 Ihm das kleine Herz zerbricht.
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 Und drüben versinket die Sonne im Thal,
 Es färbt sich das Wasser mir feurigem Strahl.
 Dort wiegt sich der Fischer im schaukelnden Kahn;
 Still zieht durch die Fluthen ein leuchtender Schwan.
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 Auf smaragd'nen Blättern ruht
 Rings umspielt von blauer Fluth,
 Eine reine fleckenlose
 Duftumfloss'ne Wasserrose.
 Träumend blickt sie in die Höh',
 Blickt hinunter in den See;
 Ueber ihr der blaue Bogen,
 Unten tief die sanften Wogen;
 Ach, ihr macht das Herz so weit
 Frühlingslust und Frühlingsleid.
 Aus dem weißen Blätterschooß
 Ringt sich eine Thräne los.
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 Da stehen die Bäume im bräutlichen Kranz,
 Da schwirren die Käfer im fröhlichen Tanz.
 Die Nachtigall singet im Rosengezweig,
 Der Frühling durchziehet sein blühendes Reich.
 Es dunkelt - da steigen die Sterne empor.
 Im Spätroth verschwindet der Wolken Flor,
 Es gleitet in heller, in strahlender Pracht
 Am funkelnden Himmel die Herrin der Nacht.
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 Gute Nacht, gute Nacht
 O Frühlingspracht!
 Leuchtet ihr Sterne, rauschet ihr Bäume,
 Sendet hernieder liebliche Träume!
 Senke die Krone zum duftenden Moose,
 Liebliche Rose!
 Ringsum im Thal ist der Frühling erwacht.
 Und die Nachtigall singt:
 Gute Nacht, gute Nacht.
 
 aus: [Anna Karbe] 
      Immergrün
 Lieder einer früh Heimgegangenen
 Mit einem Vorworte von Emil Frommel
 Berlin Verlag von Wiegandt & Grieben [1876]
      (S. 6-10)
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 Der Frühling kommt!
 
 Was mögen wohl die Vögelein
 Heut Morgen gar so fröhlich sein?
 Sie singen laut, sie singen leise
 So wunderbare Frühlingsweise.
 
 Sie schmettern hell, wie nie zuvor
 Ihr Morgenlied zu Gott empor,
 Als sollte ihrer Lieder Klingen
 Hinauf bis in den Himmel dringen:
 
 "Weißt Du's noch nicht? wir ziehen aus,
 Der Frühling kommt heut Nacht nach Haus,
 Drum singen wir so frohe Lieder;
 Glück auf! Jetzt kommt der Frühling wieder!
 
 Und wir des Frühlings Sängerchor,
 Wir ziehn bis an die Grenze vor,
 Daß wir mit Singen und mit Klingen
 Ihn im Triumph nach Hause bringen!"
 
 So sangen mir die Vöglein zu,
 Mir aber läßt es keine Ruh',
 Ich muß es allen Menschen sagen,
 Ich muß es immer weiter tragen.
 
 Der Frühling kommt! Thut auf das Herz!
 Vergeßt des Winters Frost und Schmerz!
 Hört Ihr die Frühlingsglocken klingen?
 Der Frühling kommt! Nun laßt uns singen!
 
 aus: [Anna Karbe] 
      Immergrün
 Lieder einer früh Heimgegangenen
 Mit einem Vorworte von Emil Frommel
 Berlin Verlag von Wiegandt & Grieben [1876]
      (S. 10-11)
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 Im Schwalbennest
 
 Nein, Schwälbchen, nein, ich fange Dich,
 Nicht eher will ich ruhn;
 Denn niemand auf der Welt als ich,
 Hat was mit Dir zu thun.
 
 Du hast an Liebchens Fenster Dir
 Dein Nestchen aufgebaut.
 Nun kleine Schwalbe sage mir,
 Was hat sie Dir vertraut?
 
 "Mein Nestchen kannst Du sehen
 Dort unter ihrem Dach.
 Doch konnt ich nie verstehen,
 Was ihre Stimme sprach.
 
 Sie hat mir Nichts vertraut,
 Was mir verständlich war;
 Doch hab' ich oft geschaut
 Ihr in das Augenpaar.
 
 Ich weiß es selber kaum,
 Was ich darin erspäht.
 Oft war es wie ein Traum,
 Und oft wie ein Gebet.
 
 aus: [Anna Karbe] 
      Immergrün
 Lieder einer früh Heimgegangenen
 Mit einem Vorworte von Emil Frommel
 Berlin Verlag von Wiegandt & Grieben [1876]
      (S. 11-12)
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 Vorbei
 
 Der Lenz war erschienen
 So froh und so frei;
 Da kamen im Grünen
 Die Blumen herbei.
 
 Da blühten die Rosen
 Mit Veilchen zugleich
 Aus duftenden Moosen,
 Aus blühendem Zweig.
 
 Nun ist es vergangen,
 Uns bleibt nur zurück
 Ein heißes Verlangen,
 Ein suchender Blick.
 
 Der Himmel so trübe,
 Kein blühender Baum,
 Und Frühling und Liebe
 Ein sehnender Traum!
 
 aus: [Anna Karbe] 
      Immergrün
 Lieder einer früh Heimgegangenen
 Mit einem Vorworte von Emil Frommel
 Berlin Verlag von Wiegandt & Grieben [1876]
      (S. 12)
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 Der Liebe Glück
 
 Die Liebe ist kein leichtes Gut,
 Sie ist ein tiefes, schweres Glück:
 Sie fordert Kraft und Gluth und Muth
 Und einen freien klaren Blick.
 
 Die Liebe ist kein süßer Traum,
 Sie fordert frisch ein waches Herz;
 Sie hat für sel'ge Freude Raum
 Und auch für heißen, tiefen Schmerz.
 
 Wem Gott ins Herz die Liebe giebt,
 Dem giebt er eine reiche Last,
 Und wo ein Herz wahrhaftig liebt,
 Da hat's des Lebens Ernst erfaßt.
 
 Und wer die Lieb' trägt in der Brust,
 Und sei die Last auch noch so schwer,
 Der gibt um aller Erde Lust
 Der Liebe Last nicht wieder her.
 
 aus: [Anna Karbe] 
      Immergrün
 Lieder einer früh Heimgegangenen
 Mit einem Vorworte von Emil Frommel
 Berlin Verlag von Wiegandt & Grieben [1876]
      (S. 13)
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 Frühlingssonne
 
 O Sonnenschein, mein Herz ist wach
 Für Deine goldne Wonne,
 Du ziehst mich Deinen Strahlen nach,
 Du klare Frühlingssonne!
 
 Du machst mein Herz so weit und weich,
 Und doch so schwer zu tragen.
 Du hebst mich bis zum Himmelreich
 In diesen sonnigen Tagen.
 
 Ich ziehe mich, ich halte still
 Und strecke mich Dir entgegen,
 Und warte, was da werden will,
 Aus all' dem sonnigen Segen!
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 Was soll es werden, wenn die Sonne
 Sich nimmermehr zufrieden giebt,
 Wenn sie mit täglich neuer Wonne
 Die Herzen überströmt und liebt.
 
 O sieh, wie eine jede Blüthe
 Zu Boden neigt ihr Angesicht,
 Daß Gottes reiche schwere Güte
 Ihr wonnetrunknes Herz nicht bricht.
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 Mir ist als müßt ich singen
 Ein Lied so wunderbar,
 Als müßt' es mir gelingen,
 Wie's nie gelungen war.
 
 Als müßt es aufwärts steigen,
 So hoch wie nie zuvor
 Und dennoch muß ich schweigen,
 Weil ich mein Lied verlor.
 
 aus: [Anna Karbe] 
      Immergrün
 Lieder einer früh Heimgegangenen
 Mit einem Vorworte von Emil Frommel
 Berlin Verlag von Wiegandt & Grieben [1876]
      (S. 13-14)
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 Die Himmelsrose
 
 Kennst Du die Rose, die vor Zeiten
 Im Paradiese aufgeblüht,
 Die Rose, die seit Ewigkeiten
 Als wunderbares Reis geglüht?
 
 Die eine heil'ge reine Rose,
 Der Gottessegen für die Welt,
 Die wunderbar die dunkeln Loose
 Mit ihrem Himmelsstrahl erhellt;
 
 Die Rose aus dem Garten Eden,
 Die Königin der Ewigkeit,
 Die Himmelsrose, die für Jeden
 In Duft und Farbenglanz geweiht;
 
 Die Rose, die in Jesu Wunden
 So purpurglühend aufgeblüht,
 Die sich am Kreuz emporgewunden,
 Und uns ans Herz des Lammes zieht.
 
 Die Rose, die der Sonne Strahlen
 Entströmt aus ihrem heil'gen Schooß,
 Die Rose, die in tausend Qualen
 Auf unser Herz den Balsam goß;
 
 Die Rose, die mit Glockentönen
 Begegnet unserm Schmerzensruf,
 Die Rose, die all' unsre Thränen,
 Zu lauter echten Perlen schuf;
 
 Die Rose, die mit ihren Ranken
 Hinauf bis in den Himmel steigt,
 Und Gottes heilige Gedanken
 Zu unserm müden Herzen neigt;
 
 Die Rose, die als lichte Sonne
 Des Lebens Nächte uns erhellt,
 Die Rose, die zu Trost und Wonne
 Erblühte für den Kampf der Welt;
 
 Die Rose, die am hellen Morgen
 So frühlingsfrisch im Thau erscheint,
 Die in den Nächten banger Sorgen
 Das Auge tröstet, das da weint;
 
 Die Rose, die aus Gottes Herzen
 Ein sehnendes Erbarmen ringt
 Und in das Vaterland der Schmerzen
 Den Oelzweig Seines Friedens bringt;
 
 Die Rose, die aus Gott geboren,
 Die ewig ohne Wechsel blüht,
 Die einst an Salems goldnen Thoren
 In wunderbaren Farben glüht;
 
 Die Rose, die dem matten Blicke
 Im Todesthal den Balsam reicht.
 Die Rose, die als Perlenbrücke
 Zum aufgeschloss'nen Himmel steigt;
 
 Die Rose, die im Festgewande,
 Die von dem Herrn erwählte Braut,
 In Kanaan, im heil'gen Lande,
 Mit ihrem Bräutigam vertraut;
 
 Die Rose, deren heil'ge Triebe
 Gott selbst in Seinem Herzen trägt,
 Die ew'ge Gottesbraut, die Liebe,
 Die Gott gemacht, gepflanzt, gepflegt.
 
 O wunderbare Purpurblüthe,
 Des großen Gottes Heiligthum,
 Vom ew'gen Feuer ganz durchglühte,
 Du heilig Reis, zu Gottes Ruhm!
 
 O Liebe laß in Deinen Zweigen,
 Die Gott zum Himmel wachsen ließ,
 Uns höher, immer höher steigen,
 Bis in der Liebe Paradies!
 
 aus: [Anna Karbe] 
      Immergrün
 Lieder einer früh Heimgegangenen
 Mit einem Vorworte von Emil Frommel
 Berlin Verlag von Wiegandt & Grieben [1876]
      (S. 16-18)
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 Bitte um ein fröhliches Herz
 
 Herr, gieb mir auch im tiefsten Schmerz,
 Ein frohes Kindergottesherz,
 Ein fröhlich Herz, das nicht verzagt
 Und nimmer über Schmerzen klagt;
 
 Ein fröhlich Herz, das singen kann,
 Wenn Deine Hand ihm weh gethan,
 Dem jeden Tag ein frohes Lied
 Auch selbst im tiefen Leid erglüht,
 
 Ein fröhlich Herz, das immer grün
 In allen Leiden möge blühn;
 Ja, laß in Deinem Sonnenschein
 Mein Herz ein fröhlich Blümlein sein.
 
 aus: [Anna Karbe] 
      Immergrün
 Lieder einer früh Heimgegangenen
 Mit einem Vorworte von Emil Frommel
 Berlin Verlag von Wiegandt & Grieben [1876]
      (S. 67)
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 Wunsch
 
 Seine Flügel breite
 Jesus über Dich,
 Seine Gnade leite,
 Treu Dich ewiglich.
 
 Seine Hand behalte
 Ueber Dir die Wacht,
 Und sein Auge walte
 Ueber Dir bei Nacht.
 
 Seine Sonne breche
 Dir durch Nebelflor,
 Seine Stimme spreche
 Dir ein Trostwort vor.
 
 Seinen Balsam lege
 Jesus Dir aufs Herz,
 Führ' auf Seinem Wege
 Treu Dich himmelwärts.
 
 aus: [Anna Karbe] 
      Immergrün
 Lieder einer früh Heimgegangenen
 Mit einem Vorworte von Emil Frommel
 Berlin Verlag von Wiegandt & Grieben [1876]
      (S. 67-68)
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 Herzenssehnsucht
 
 Herr, mache Du mein Herz bereit,
 O mach' es frei und froh und weit:
 Frei von der Welt, und himmelan,
 Froh, daß ich Lieder singen kann,
 Und weit, damit zu jeder Zeit
 Für Dich die Herberg' sei bereit.
 ---
 
 Halte die Gedanken,
 Lieber Gott, in Acht,
 Ziehe selbst die Schranken
 Um mich her zur Wacht.
 
 Drück mir auf Dein Siegel
 Für des Tages Last,
 Halte Deine Flügel
 Ueber mich zur Rast.
 
 Zieh' mich immer lieber
 Aus der Welt hinaus,
 Trage mich hinüber
 In Dein offnes Haus!
 ---
 
 Wir wandeln und wir irren
 Den eignen Weg entlang,
 Bis wir uns ganz verwirren,
 Da wird uns weh und bang.
 Herr, leite Du die Irrung
 Zurück auf Dein Revier,
 Und löse die Verwirrung
 Mit einem Wort von Dir!
 
 aus: [Anna Karbe] 
      Immergrün
 Lieder einer früh Heimgegangenen
 Mit einem Vorworte von Emil Frommel
 Berlin Verlag von Wiegandt & Grieben [1876]
      (S. 68-69)
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 Er ist unser Friede
 
 Gieb mir Ruhe in die Seele,
 Schließe meine Augen zu,
 Daß ich nichts mehr will und wähle
 Als nur Dich und Deine Ruh.
 
 Löse mich von allem Schaden
 Der sich in mein Herz gebrannt,
 Nimm Du den zerrissnen Faden
 Heilend in die feste Hand.
 ---
 
 Gieb mir Ruhe in die Seele,
 Herr, der Du die Ruhe hast,
 Was ich wünsche, was ich wähle,
 Ruhe ist es, Herr, und Rast!
 
 Und Du bietest Deine Hände,
 Und mir leuchtet Deine Ruh, -
 Wende Herr, mein Herz, o wende
 Es dem Weg des Friedens zu.
 ---
 
 Herr, wenn wir in der Frühlingsluft ermüden -
 Du bist, und hast und sendest uns den Frieden.
 Wir schlafen ein, gleich wie ein Kind, so warm,
 Im Mutterarm.
 ---
 
 Friede und Ruhe ist Dein,
 Gott im Himmel, ich auch -
 Ein Wort von Dir, ein Hauch,
 Und Beides ist mein!
 
 aus: [Anna Karbe] 
      Immergrün
 Lieder einer früh Heimgegangenen
 Mit einem Vorworte von Emil Frommel
 Berlin Verlag von Wiegandt & Grieben [1876]
      (S. 69-70)
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 Um ein stilles Herz
 
 Herr, ich weiß nicht, was ich will,
 Müde bin ich und gedrückt;
 Nimm mein Herz und mach' es still,
 Daß es frei nach oben blickt!
 
 Lege Deine Segenshand
 Auf mein Herz, so matt und krank,
 Leite Du mich unverwandt,
 Jetzt, und all' mein Lebelang!
 ---
 
 Wenn ich geduldig warten lerne
 Auf das, was mir Dein Wort verspricht,
 Wenn ich mein Herz von dem entferne
 Was Deine Hand für mich zerbricht;
 Wenn die Gedanken sich verbinden,
 Hinauf, wohin mein Herz gehört,
 So werde ich die Ruhe finden
 Die meine Seele so begehrt.
 ---
 
 Herr, nimm mein Herz in Deine Hände,
 Und mach' es still in Deiner Huld;
 Gieb mir die Heimath einst am Ende,
 Und für die Reise gieb Geduld!
 
 aus: [Anna Karbe] 
      Immergrün
 Lieder einer früh Heimgegangenen
 Mit einem Vorworte von Emil Frommel
 Berlin Verlag von Wiegandt & Grieben [1876]
      (S. 71)
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 Wie Gott will
 
 Mach' unsre Herzen still und stark
 Vertrauensvoll und frei von Arg;
 Und wenn's Dein Wille ist, so lege
 Uns Sonnenschein auf unsre Wege!
 Doch kommst Du uns mit dunklen Tagen,
 So lehre uns den Schatten tragen -
 Nur laß für Deinen Sonnenschein
 Stets unsre Herzen offen sein.
 
 aus: [Anna Karbe] 
      Immergrün
 Lieder einer früh Heimgegangenen
 Mit einem Vorworte von Emil Frommel
 Berlin Verlag von Wiegandt & Grieben [1876]
      (S. 72)
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 Hinauf
 
 Ich wollt', ich könnte fliegen,
 So flög' ich in die Höh,
 Und ließe unten liegen
 Der Erde Lust und Weh.
 
 Ich habe ja die Flügel
 Und nur nicht Kraft genug,
 Mir sind zu steil die Hügel,
 Mir fehlt der Muth zum Flug.
 
 O Gott, verleih mir Schwingen
 Und Kraft und Muth zugleich,
 Und laß mich wieder singen
 Und mach' mich jung und reich.
 
 aus: [Anna Karbe] 
      Immergrün
 Lieder einer früh Heimgegangenen
 Mit einem Vorworte von Emil Frommel
 Berlin Verlag von Wiegandt & Grieben [1876]
      (S. 72)
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 Freude im Herrn
 
 Ich möchte halten jene Freude
 Viel fester als des Lebens Glück,
 Und ob der Frühling von mir scheide
 Die Blume lasse er zurück.
 
 Die Freude, die aus Gott geboren
 Nichts von der Zeiten Wechsel spürt,
 Und ob sie gleich die Welt verloren
 Doch ihren Segen nie verliert.
 
 aus: [Anna Karbe] 
      Immergrün
 Lieder einer früh Heimgegangenen
 Mit einem Vorworte von Emil Frommel
 Berlin Verlag von Wiegandt & Grieben [1876]
      (S. 73)
 _____
 
 
 Ich will Dich fragen - lehre mich!
 
 Lehre mich die Wege finden,
 Die du selbst für mich gebahnt,
 Lehre mich die Ruhe fühlen,
 Wie sie meine Seele ahnt.
 
 Lehre mich, ich will Dich fragen,
 Lehre mich, zu Dir zu tragen
 Alles, was mich drückt und quält,
 Bis mir nichts mehr fehlt.
 
 aus: [Anna Karbe] 
      Immergrün
 Lieder einer früh Heimgegangenen
 Mit einem Vorworte von Emil Frommel
 Berlin Verlag von Wiegandt & Grieben [1876]
      (S. 73)
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 "Den Frieden lasse ich Euch -
 Meinen Frieden gebe ich Euch".
 
 Behüte unsre wilden Herzen
 Mit Deines Friedens sanfter Macht;
 Du hast so oft auf unsre Schmerzen
 Der Liebe mildes Licht gebracht;
 O breite über unsre Wonne
 Dein friedevolles Angesicht,
 Daß unter dieser Last von Sonne
 Das schattenreiche Herz nicht bricht.
 
 aus: [Anna Karbe] 
      Immergrün
 Lieder einer früh Heimgegangenen
 Mit einem Vorworte von Emil Frommel
 Berlin Verlag von Wiegandt & Grieben [1876]
      (S. 73-74)
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 Um ein festes Herz
 
 Mein Gott, ich richte meine Bitte
 Mit heißem Flehen himmelwärts:
 Gieb meinem Wandel feste Tritte,
 Ja, mache fest mein ganzes Herz!
 
 Nicht wild, bald hier, bald dorthin schwankend,
 Gleich als ein Rohr, vom Wind bewegt,
 Nein, als ein Felsen, nimmer wankend,
 Ob hoch hinauf die Welle schlägt.
 
 Doch nicht, wie jene schlanke Fichte,
 Die stolz empor die Krone hebt;
 Ihr Jugendschmuck wird bald zunichte
 Wenn ihr der Sturm das Herz durchbebt;
 
 Ob sie noch heute fest nach oben
 Den starken, dunkeln Wipfel trägt,
 Die scharfe Axt ist schon erhoben
 Die ihr das stolze Haupt zerschlägt.
 
 Wie sich die grüne Epheuranke,
 Die ohne Stütze schwankt und fällt,
 Daß sie im Sturme nicht erkranke,
 Fest an den Stamm der Eiche hält:
 
 So wollst Du meine Triebe winden
 Am Kreuzesstamm zu Dir hinauf,
 Dann werd' ich Kraft und Stärke finden,
 Ein festes Herz und sichern Lauf.
 
 aus: [Anna Karbe] 
      Immergrün
 Lieder einer früh Heimgegangenen
 Mit einem Vorworte von Emil Frommel
 Berlin Verlag von Wiegandt & Grieben [1876]
      (S. 74-75)
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 Ziehe mich zu Dir!
 
 Ziehe mich -
 Herr, ziehe mich!
 Ob an Ketten, ob an Faden,
 Ziehe mich, o Herr, aus Gnaden
 An Dein Herz,
 Allerwärts,
 Bis sich endet aller Schmerz.
 
 aus: [Anna Karbe] 
      Immergrün
 Lieder einer früh Heimgegangenen
 Mit einem Vorworte von Emil Frommel
 Berlin Verlag von Wiegandt & Grieben [1876]
      (S. 75)
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 Freier Blick
 
 Erhalte, Herr, mir frei den Blick,
 Hinauf, hinein, vorwärts, zurück!
 Hinauf, hoch über Gram und Schmerz,
 Hinein in Dein erbarmend Herz,
 Vorwärts auf der gegebnen Bahn,
 Zurück, auf das, was Du gethan!
 So halte Du mein Herz in Acht,
 Bis ich mein Tagewerk vollbracht;
 Und kommt der Abend, hole Du,
 Durch Deinen Engel mich zur Ruh!
 
 aus: [Anna Karbe] 
      Immergrün
 Lieder einer früh Heimgegangenen
 Mit einem Vorworte von Emil Frommel
 Berlin Verlag von Wiegandt & Grieben [1876]
      (S. 75-76)
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 Zum Herrn hin!
 
 Führe meine Seele
 An den richt'gen Quell,
 Mache meine Sinne
 Klar und fest und hell!
 
 Fülle mich von oben
 Herr, mit jener Kraft,
 Die in Streit und Thränen
 Endlich Frieden schafft!
 ---
 
 Führe mich zurück zu Dir,
 Zeige mir, was ich verlassen!
 Meine Sehnsucht brennt in mir,
 Doch ich kann ihr Ziel nicht fassen.
 
 Meine Last ist mir zu viel,
 Sprich ein Wort, so muß sie weichen!
 Sei Du meiner Sehnsucht Ziel,
 Und dann hilf mir, Dich erreichen!
 ---
 
 Ich bin weit von Dir verwirrt,
 Führe mich nach Haus,
 Meine Wege sind verwirrt,
 Ziehe mich hinaus!
 
 Meine Seele ist getrübt
 Von des Lebens Graus -
 Vater, der Du mich geliebt,
 Trage mich nach Haus.
 
 Mache mich für Dich bereit,
 Zieh mein Kleid mir aus,
 Sende mir ein neues Kleid,
 Herr, aus Deinem Haus!
 ---
 
 Herr, ich kann Dir's nicht erklären,
 Was mein sehnend Herz bewegt!
 Meine Seufzer wirst Du hören,
 Die mein Engel aufwärts trägt.
 
 Ja, mein Engel, dessen Flügel
 Ueber meinem Herzen schwebt,
 Ueber Thäler, Ström' und Hügel
 Mich hinauf zur Heimath hebt.
 
 aus: [Anna Karbe] 
      Immergrün
 Lieder einer früh Heimgegangenen
 Mit einem Vorworte von Emil Frommel
 Berlin Verlag von Wiegandt & Grieben [1876]
      (S. 76-77)
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 Sei still
 
 O, höre auf, Dein Herz zu richten
 Auf Sonnenschein, den Gott versagt!
 Gott hält ihn fern, Du mußt verzichten,
 So viel auch Deine Seele klagt.
 
 Doch gieb Dich willig in die Wege,
 So wirst Du fröhlicher gedeihn
 In Seines Schattens milder Pflege
 Als in des Frühlings Sonnenschein!
 ---
 
 Du mußt geduldig sein
 Mit dem, was Gott gegeben.
 Du kannst im Lichte leben
 Auch ohne Sonnenschein!
 
 Und wird Dein Herze still
 Mit dem, was Gott beschieden,
 So giebt Er Dir den Frieden,
 Den Deine Seele will.
 
 aus: [Anna Karbe] 
      Immergrün
 Lieder einer früh Heimgegangenen
 Mit einem Vorworte von Emil Frommel
 Berlin Verlag von Wiegandt & Grieben [1876]
      (S. 77-78)
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 Warten in Geduld
 
 Wir warten, weil wir müssen,
 Gar manchen, lieben Tag,
 Stumm, ohne je zu wissen
 Wie bald es enden mag.
 
 Wir warten ohne Klage
 Und schlafen drüber ein -
 Doch ernst ertönt die Frage:
 "Heißt das geduldig sein?"
 
 Geduld heißt, nicht ermüden
 Im schweren Gram und Leid,
 Geduld ist tiefer Frieden
 Im wilden Kampf und Streit.
 
 Geduld heißt, vorwärts gehen,
 Wenn uns die Kraft versagt;
 Geduld heißt, aufwärts sehen,
 Bis uns die Sonne tagt.
 
 Geduld ist unermüdlich
 Auf der gewies'nen Bahn;
 Geduld ist still und friedlich
 Im wilden Ocean.
 
 Herr, brechen Sturm und Wellen
 Wild über mich herein,
 Daß sie mein Schiff zerschellen, -
 Hilf mir geduldig sein!
 
 aus: [Anna Karbe] 
      Immergrün
 Lieder einer früh Heimgegangenen
 Mit einem Vorworte von Emil Frommel
 Berlin Verlag von Wiegandt & Grieben [1876]
      (S. 78-79)
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 Geduld
 
 Geduld ist nicht die thatenlose Stille,
 Die kraftlos trägt, was sie nicht hindern kann,
 Die dumpfe Schwäche, deren eigner Wille
 Nur schweigt, weil ihr zu mühevoll die Bahn.
 Nicht jenes willenlose Sichergeben,
 Weil Widerstand doch nichts erreichen mag;
 Geduld ist nicht dies träge, müde Leben,
 Dies Leiden nur der Last von Tag zu Tag.
 
 Geduld ist eine Kraft, die überwindet,
 Sie kennt den Weg, ihr ist das Ziel gewiß.
 Geduld ist Muth, der seine Bahnen findet,
 Ob oft in Dornen auch das Herz zerriß.
 Sie faßt die Last, die Gott ihr aufgegeben,
 Sie sinkt darunter nicht, sie hebt sie auf.
 Entgegen tritt sie kühn und frisch dem Leben;
 Wie sie begann, vollendet sie den Lauf.
 
 Geduld ist Frieden, der im Kampf nicht scheidet,
 Geduld ist Freude, die im Leid nicht stirbt.
 Geduld ist Muth, der nie ein Opfer meidet,
 Geduld ist Jugend, die kein Herbst verdirbt.
 Geduld ist unermüdlich, ohne Klage;
 Sie hat sich ihren Weg nicht selbst gewählt,
 Doch findet ihre Last sie alle Tage
 Stark und gesund, bereitet und gestählt.
 
 Geduld dringt durch und sei's durch tausend Wunden,
 Sie läßt sie heilen, denn sie trägt sie still.
 Sie hat schon auf dem Weg ihr Ziel gefunden,
 Weil sie nichts andres will, als was Gott will.
 Sie hört nicht auf, zu glauben und zu lieben,
 Wenn Alles schwindet, Alles bricht und weicht.
 Dann aber ruht sie aus, wenn sie dort drüben
 All' ihrer Hoffnung ew'ges Ziel erreicht.
 
 aus: [Anna Karbe] 
      Immergrün
 Lieder einer früh Heimgegangenen
 Mit einem Vorworte von Emil Frommel
 Berlin Verlag von Wiegandt & Grieben [1876]
      (S. 96-97)
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 Flehen und Antwort
 
 Herr, wir heben unsre Hände
 Und wir schreien, Gott, zu Dir:
 Mach' mit unserm Leid ein Ende,
 Herr, denn sonst verschmachten wir!
 
 Laß den Kelch vorübergehen,
 Wenn Du Mitleid mit uns hast.
 Denn wir können nicht bestehen
 Vor der übergroßen Last.
 ---
 
 Stille, armes Herz, sei stille,
 Stille, und ergieb Dich Mir;
 Daß Du leidest, ist Mein Wille,
 Aber sieh, Ich helfe Dir!
 
 Sieh, den Kelch den mußt Du trinken,
 Und Du mußt durch's rothe Meer,
 Aber Du sollst nicht versinken,
 Und die Last ist nicht zu schwer.
 
 Sieh, Du mußt Mir stille halten,
 Sei die Last auch noch so groß;
 Läßt Du Meine Hand nur walten,
 Meine Hand läßt Dich nicht los.
 
 Es sind lauter Liebesschläge,
 Machen sie das Herz auch wund.
 Es sind lauter Himmelswege,
 Sind sie dornig gleich zur Stund.
 
 Mußt Du durch die Wüste gehen,
 Führt sie doch nach Canaan,
 Und dereinst laß Ich Dich sehen,
 Warum wüste war die Bahn.
 
 Nein, Du darfst nun nicht mehr klagen,
 Daß Dein Kreuz Dir sei zu schwer,
 Denn Ich hab's voran getragen,
 Und Ich bin Dein Gott und Herr!
 
 Nun so gieb Mir Deine Hände
 Und verlaß Dich ganz auf Mich,
 Denn zum allerbesten Ende,
 Auf zum Himmel führ' Ich Dich!
 
 Komm und laß Dein Herze tauchen
 In Mein volles Gnadenmeer,
 Weil Du noch wirst Kräfte brauchen,
 Denn der Kelch ist noch nicht leer.
 
 Komm und laß Dein Herze stillen
 In der klaren Gnadenfluth,
 Komm, ergieb Dich Meinem Willen,
 Denn das Leiden ist Dir gut!
 
 Doch wenn Du einst ausgelitten,
 Durchgekämpft den schweren Strauß,
 Will Ich Dich zur Hochzeit bitten,
 Dort in Meines Vaters Haus.
 
 Dann wirst Du von ganzem Herzen
 Danken Mir für dieses Leid,
 Und für alle Deine Schmerzen
 Loben Mich in Ewigkeit!
 
 aus: [Anna Karbe] 
      Immergrün
 Lieder einer früh Heimgegangenen
 Mit einem Vorworte von Emil Frommel
 Berlin Verlag von Wiegandt & Grieben [1876]
      (S. 101-103)
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 Sei still mein Herz
 
 Sei still, mein Herz!
 Gott kennt den Schmerz,
 Und Er versteht des Herzens Sehnen.
 Wenn Gott es will,
 Sei still, sei still!
 Er sieht und zählet Deine Thränen.
 
 Gott hat's gethan!
 Denkst Du daran?
 Du darfst ja Deinen Schmerz beweinen,
 Doch nie, mein Herz,
 Vergiß im Schmerz:
 Gott liebt und schlägt und heilt die Seinen.
 
 Nimmt Er Dir ab,
 Was Er Dir gab -
 Was ist's denn anders als Sein Eigen?
 Du und was Dein
 Ist Alles Sein -
 Nimmt Er's zurück, so mußt Du schweigen.
 
 Sei still, sei still,
 Weil Gott es will!
 Er legt Dir's auf, was willst Du klagen?
 Was Dich bedrückt,
 Hat Gott geschickt.
 Sei still, sei still, Gott hilft Dir tragen!
 
 aus: [Anna Karbe] 
      Immergrün
 Lieder einer früh Heimgegangenen
 Mit einem Vorworte von Emil Frommel
 Berlin Verlag von Wiegandt & Grieben [1876] (S. 103-104)
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 Bitte
 
 O Gott, Dein Wille
 Ist immer gut.
 Wenn's wehe thut,
 Wir halten stille.
 
 Nur laß uns wissen
 Dich, unsern Hort,
 Gieb uns Dein Wort
 Als Ruhekissen!
 
 aus: [Anna Karbe] 
      Immergrün
 Lieder einer früh Heimgegangenen
 Mit einem Vorworte von Emil Frommel
 Berlin Verlag von Wiegandt & Grieben [1876] (S. 104)
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 Ergebung
 
 Herr, wie Du willst, daß ich es trage,
 So trage ich's in Deinem Arm.
 Du aber hältst mich alle Tage
 In allem Elend weich und warm.
 Und kommt der Tag, da Du gefunden,
 Mein Leben und mein Leid sei aus,
 So trägst Du mich durch Jesu Wunden
 In Deinen Armen selbst nach Haus.
 
 aus: [Anna Karbe] 
      Immergrün
 Lieder einer früh Heimgegangenen
 Mit einem Vorworte von Emil Frommel
 Berlin Verlag von Wiegandt & Grieben [1876] (S. 105)
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 Ob ich schon wanderte im finstern Thal, fürchte
 ich kein Unglück, denn Du bist bei mir
 
 Laß Deine Hand mich fest erfassen,
 Dann wie Du willst, ich folge Dir.
 Nur mußt Du Deine Hand mir lassen
 Und Deinen Segen über mir,
 Und Deine Augen, die mich leiten,
 Nur wie Du willst, nicht wie ich will,
 Und Deine Hände mußt Du breiten
 Mir auf das Herz, so wird es still.
 
 aus: [Anna Karbe] 
      Immergrün
 Lieder einer früh Heimgegangenen
 Mit einem Vorworte von Emil Frommel
 Berlin Verlag von Wiegandt & Grieben [1876] (S. 105)
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 Das Fischermädchen
 
 "Wie sich die schwarzen Wolken thürmen!
 Die Möve flattert scheu umher;
 Die dumpfe Ruh' vor wilden Stürmen
 Liegt auf dem weiten, stillen Meer.
 Die Wolken steigen hoch und höher,
 Es schwillt mein Herz, es wankt mein Fuß,
 Doch näher noch zum Strande, näher!
 Bebt auch mein Fuß, ich muß, ich muß."
 
 Sie eilt dahin mit raschen Schritten
 Durch Sand und Stein mit wilder Hast.
 Wohl bebt der Fuß bei ihren Tritten,
 Doch läßt das Herz ihr freie Rast.
 Nun ist der letzte Berg erstiegen,
 Sie klimmt herab von Felsnehöh'.
 Und sich zu Füßen sieht sie liegen
 Die starre, tiefe, wilde See.
 
 Auf harten Steinen sinkt sie nieder,
 Zum Tode matt vom schnellen Lauf.
 Dort fliegt die weiße Möve wieder,
 Die Wolken ziehen langsam auf.
 Nacht ist es; schauerliche Stille
 Belauscht der See Gewitterruh;
 Die Wolke deckt mit schwarzer Hülle
 Das gold'ne Heer der Sterne zu.
 
 Wie eine schauervolle Ahnung
 Durchzuckt ein Blitz die finstre Nacht;
 Der Donner rollt in dumpfer Mahnung,
 Zum Zeichen, daß der Richter wacht.
 Schon tobt das Meer mit innerm Grimme,
 Es droht in Lüften weit und breit
 Wie donnernde Prophetenstimme:
 "Wacht auf vom Schlaf, denn es ist Zeit!"
 
 Das Fischermädchen bricht zusammen
 Bei dieser grausen Melodei.
 Durch Sturmgebraus und Feuerflammen
 Erhebt sie ihren Schmerzensschrei:
 "O Gott der Liebe, laß mich weinen,
 Barmherziger, ich bitte dich!
 Ich habe nichts als diesen Einen,
 Und dieser Eine nichts als mich."
 
 Sie lieget lange auf den Knieen,
 Allein mit Gott und ihrem Leid;
 Jehova läßt vorüberziehen
 Der Elemente Sturm und Streit.
 Allmählig glätten sich die Wogen,
 Und ruhig, wie ein müdes Kind,
 Sind auch die Wolken heimgezogen,
 Und nur von ferne klagt der Wind.
 
 Ein Engel hat die gold'nen Sterne
 Von ihrem Schleier frei gemacht;
 Sie leuchten doppelt hell und gerne
 Auf die erregte stille Nacht,
 Sie tauchen sich in alter Weise
 Tief in die klaren Wellen ein;
 Wie um zu beten, plätschert leise
 Die müde See und schlummert ein.
 
 Und als die Augen aufgehoben
 Das Mädchen von dem harten Stein,
 Da ist's, als blicke sie dort oben
 Tief in den blauen Himmel ein.
 Denn tausend gold'ne Sterne blinken
 Wie Himmelsfenster, aufgethan,
 Als wollten sie hinüberwinken:
 Getrost, Gott nimmt dein Flehen an!
 
 Und fern von der verborgnen Stätte,
 Wo heiße Liebe treu gewacht,
 Da hat mit Wind und Sturm zur Wette
 Ein Schiff gekämpft die ganze Nacht.
 Da ist in Todesangst und Nöthen
 Der junge Schiffer hingekniet,
 Um zu dem Herrn der Welt zu beten,
 Vor welchem Sturm und Wellen flieht.
 
 Die Engel Gottes sind gekommen
 Und haben sanft das schwanke Schiff
 In ihrer Flügel Schutz genommen,
 Vorbei an manchem steilen Riff.
 Und als nach dieser Nacht voll Schmerzen
 Der Morgenstern am Himmel steht,
 Da steigt aus zwei getrosten Herzen
 Zu Gott empor ein Dankgebet.
 
 aus: Deutschlands Dichterinnen.
 Blüthen deutscher Frauenpoesie
 aus den Werken deutscher Dichterinnen
 der Vergangenheit und Gegenwart
 ausgewählt von Karl Wilhelm Bindewald
 Osterwieck / Harz o. J. [1895] (S. 50-51)
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        Biographie:
 Karbe, Anna, geboren am 4. Mai 1852 zu Granzow in der Uckermark, 
        gestorben am 19. April 1875.
 
 Lieder. Mit einer Photographie der Dichterin. 2. Auflage (206) (1881) 
        1886
 Lieder einer früh Vollendeten. Mit Vorwort v. F. v. Bodelschwingh (96) 
        Bielefeld 1895.
 
 aus: Lexikon 
        deutscher Frauen der Feder.
 Eine Zusammenstellung der seit dem Jahre 1840 erschienene Werke 
        weiblicher Autoren, nebst Biographieen der lebenden und einem 
        Verzeichnis der Pseudonyme. Hrsg. von Sophie Pataky
 Berlin 1898
 
        
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