Das Liebes-Poetische Manuskript N° 55

Hundert Küsse zu hundertmalen, hundert Küsse zu tausendmalen,
tausend Küsse zu tausendmalen ...

Die Küsse des Johannes Secundus (1511-1536)
 


Domenico Ghirlandaio (1449-1494)
Junge Frau



Zehnter Kuss

Küsse besonderer Art sind nicht vor den andern mir theuer.
Beut sie mir thauig dein Mund, reizen die thauigen mich.
Aber im trockenen Kuß auch wohnt anlockender Liebreiz,
Oft in das innerste Mark strömten sie schmachtende Glut.
Süß auch ists mit Küssen die nickenden Augen bedecken,
Und zur Strafe den Quell unserer Qualen zu ziehn,
Oder am Nacken sich fest, an den Wangen sich anzusaugen,
Oder am schneeigen Hals, oder der schneeigen Brust,
Und mit erröthendem Maal so Nacken als Wange zu zeichnen,
Zeichnen den Lilienhals, zeichnen die Lilienbrust,
Oder mit zitternden Lippen die girrende Zunge zu schlürfen,
Daß der vereinigte Geist glühend im Kuß sich berührt,
Daß er dem Busen entfleucht, in des anderen Busen zu tauchen,
Und in entzückenden Tod sinke die schmachtende Lust.
Ob er entfliehend und kurz, ob innig und lang, er entzückt mich,
Ob du den Kuß mir geschenkt, ob ich ihn, Süße, geraubt.
Doch erwieder' ihn nie, wie den Kuß von mir du empfangen:
Spiele das liebliche Spiel jedes auf eigene Art.
Aber welcher zuerst des reizenden Wechsels ermangelt,
Höre, gesenkten Blicks, dieses gestrenge Gesetz:
Daß er allein dem Sieger so viele der süßesten Küsse
Spend', als beyde zuvor küßten, und wechselnd wie sie.

 

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Übersicht

Gedicht aus: Die Küsse des Johannes Secundus
München Hyperion Verlag 1920
In der Übersetzung von Franz Passow [1786-1833]
(nach der Ausgabe Leipzig 1807)
(S. 33)
 


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