Das Liebes-Poetische Manuskript N° 55

Hundert Küsse zu hundertmalen, hundert Küsse zu tausendmalen,
tausend Küsse zu tausendmalen ...

Die Küsse des Johannes Secundus (1511-1536)
 


Claude Mellan (1598-1688)
Henriette-Marie de Buade-Frontenac



Neunter Kuss

Nicht immer schmilz in thauigen Küssen hin,
Und lächle nicht so lockend beym Zungenspiel,
Nicht immer hänge, mich umstrickend,
Glühend und sehnend an meinem Halse.
Ein ewig Ziel ward jeglicher Lust gesetzt,
Daß, was den Geist in süßeren Taumel reißt,
Auf kürzerm Pfad des Überdrußes
Trauriges Schattengewölk herbeyführt.
Wenn um neun Küß' ich lüstern dich angefleht,
Verweigre du mir sieben, und zwey nur gieb,
Und beyde weder lang noch thauig:
Wie sie dem bogenumklirrten Bruder
Die keusche Luna, oder dem Vater sie,
Unkundig noch der Liebe, die Tochter beut:
Muthwillig fliege dann von hinnen,
Schwebenden Ganges, aus meinen Augen.
Und dann verbirg im fernsten Gemache dich,
Und dann versteck' im dunkelsten Winkel dich;
Bis in den dunkeln Winkel werd' ich,
Werd' in das fernste Gemach dir folgen,
Und, siegestrunken, dich mit gewaltigem Arm
Umflechtend, meines Kampfes ersehnten Preis
Ergreifen, wie die zarte Taube
Dräuendgebogne Geyerklauen.
Du streckst besiegt die flehenden Arme aus,
An meinen Nacken hängest du schmeichelnd dich,
Und hoffest, Thörinn, nun mit sieben
Scherzenden Küssen mich auszusöhnen.
Du irrst. Zu würdger Buße der Frevelthat
Raub' ich die sieben Küsse dir siebenmal,
Und mit den Banden der Umarmung
Feßl' ich der Flüchtigen zarten Nacken:
Bis du, die Zahl der Küsse mir dargebracht,
Bey allen deinen Reizen mir angelobst,
Du wollest öfter diese Strafe
Dir mit demselben Vergehn verdienen.

 

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Übersicht

Gedicht aus: Die Küsse des Johannes Secundus
München Hyperion Verlag 1920
In der Übersetzung von Franz Passow [1786-1833]
(nach der Ausgabe Leipzig 1807)
(S. 29-31)
 


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