Das Liebes-Poetische Manuskript N° 55

Hundert Küsse zu hundertmalen, hundert Küsse zu tausendmalen,
tausend Küsse zu tausendmalen ...

Die Küsse des Johannes Secundus (1511-1536)
 


Rosalba Carriera (1675-1757)
Felicita Sartori



Achter Kuss

Neära, welcher Wahnsinn
Verführte dich, du Lose,
Mit wildentbranntem Bisse
So anzufallen, so zu
Verletzen meine Zunge?
Und achtest du die Pfeile,
Die ich überall im Herzen
Von dir empfangen trage,
Denn für so gar nichts, daß du
Mir noch mit kecken Zähnen
An meiner armen Zunge
Den Frevel ausgeübt hast,
Die oft bey Föbus Kommen,
Die oft bey Föbus Scheiden,
Die während langer Tage
Und heißverweinter Nächte
Zu deinem Preis gesungen?
Es ist - du weißt es, Böse, -
Es ist ja diese Zunge
Die deine Ringellocken,
Die deine feuchten Aeuglein,
Die deinen Lilienbusen,
Die deinen weichen Nacken,
Liebreizende Neära,
Im süßen Lied zum Himmel,
Hoch über Jovis Blitze,
Trotz seinem Groll, erhoben;
Die dich mein süßes Leben,
Und die dich meine Wonne,
Mein Herz und meine Blume,
Und meine süße Liebe,
Und meine liebe Süße,
Und meine Dionea,
Und dich mein zartes Täubchen,
Mein weißes Turtelweibchen,
Trotz Venus Groll, genannt hat.
Und wäre das es grade,
Was dich erfreuet, Stolze,
Dem bittern Schmerz zu bringen,
Den dennoch keine Wunde -
Du weißt es wohl, du Schöne! -
So zürnen machen könnte,
Daß er nicht diese Aeuglein,
Daß er nicht diese Lippen,
Und, seiner Leiden Schöpfer,
Die ausgelaßnen Zähne,
In mitten seiner Schmerzen
Doch immer neu besänge. -
O stolze Macht der Schönheit! -

 

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Übersicht

Gedicht aus: Die Küsse des Johannes Secundus
München Hyperion Verlag 1920
In der Übersetzung von Franz Passow [1786-1833]
(nach der Ausgabe Leipzig 1807)
(S. 25-27)
 


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