Das Liebes-Poetische Manuskript N° 55

Hundert Küsse zu hundertmalen, hundert Küsse zu tausendmalen,
tausend Küsse zu tausendmalen ...

Die Küsse des Johannes Secundus (1511-1536)
 


Rosalba Carriera (1675-1757)
Portrait eines jungen Mädchens




Zweyter Kuss

Wie sich die buhlende Reb' anschmiegt dem benachbarten Ulmbaum,
Und um der Eiche Riesenleib
Ringelndes Traubengelock sich in tausend Umarmungen aufschlingt:
O könntest du, Neära, so
Glühend zum Hals mir empor mit der Arm' Umschlingungen ranken:
O könnt' auch ich, Neära, so
Fest mit verkettendem Arm dir den blendenden Nacken umstricken,
Zum ewigen Flammenkuß vereint!
Weder der Ceres Geschenk, noch die Spende des holden Lyäus,
Auch nicht des Schlummers weicher Reiz
Trennte, du Liebliche, dann von deinem erglühenden Mund mich.
In Wechselküssen aufgelöst
Trüge, vereint, das liebliche Paar Ein Nachen hinunter
Zum bleichen Haus des Schattengotts.
Wandelnd im Duft der Gefild', inmitten der ewigen Lenzaun,
Gelangten wir zum heilgen Sitz,
Wo Heroïnen, gesellt zu erhabenen Göttersöhnen,
In alter Liebe Netz verstrickt,
Ewig sich schwingen im Reihn und, fröhliche Wechselgesänge,
Beginnend, ziehn durchs Myrtenthal;
Wo um Violen und Rosen und goldenumlockte Narzissen
Der regen Zweige Schattendach
Lorbeerdickigte weben, und buhlende Küsse des Zefyrs,
Mit linden Säuselns Melodien,
Immer die Lüfte durchziehn, und Tellus, nie von der Pflugschaar
Verletzt, den schwangern Schooß erschließt.
Feyernd erhübe vor uns von den Sitzen der Seeligen Chor sich,
Und auf Rasenteppichen
Setzten zu oberst sie uns, zunächst den Heroen der Urwelt,
Und keine von den Buhlen Zeus
Zürnete, neidischen Muths, uns ob der entrissenen Ehre,
Noch Tyndaris, die Tochter Zeus.

 

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Übersicht

Gedicht aus: Die Küsse des Johannes Secundus
München Hyperion Verlag 1920
In der Übersetzung von Franz Passow [1786-1833]
(nach der Ausgabe Leipzig 1807)
(S. 9-11)
 


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