Das Liebes-Poetische Manuskript N° 55

Hundert Küsse zu hundertmalen, hundert Küsse zu tausendmalen,
tausend Küsse zu tausendmalen ...

Die Küsse des Johannes Secundus (1511-1536)
 


Santi di Tito (1536-1603)
Frauen-Portrait



Sechster Kuss
 

Als ich von dir mir der süßesten Küsse zweytausend bedungen,
Küßt' ich tausendmal dich, küßtest du tausendmal mich.
Freylich, du thatest Genüge der Zahl, liebreizendes Mädchen,
Aber der Liebe genügt nimmer das Maaß und die Zahl.
Priese Demetern wer, wenn gezählt sich die Aehren erhüben?
Zählte das keimende Gras wer im gewässerten Thal?
Wer hat, Bacchus, zu dir um Reben bey hundert gebetet,
Wer vom ländlichen Gott Bienen bey tausend erfleht?
Thaut auf dürstende Aun Zeus gnädig von Regengewölken,
Zählen die Tropfen wir nicht dieser ergossenen Flut:
So auch, wenn, von Orkanen durchtobt, die verfinsterte Luft graut,
Und die gewaltige Faust Jupiter zürnend bewehrt,
Peitscht mit der Schloßen Erguß er die Erd' und die bläuliche Meerflut,
Sorglos, wo und wie viel Saaten er niedergestreckt.
Sey es der Fluch, sey's Segen, im Uebermaaß kommt es vom Himmel,
Denn das Unendliche wohnt herrschend in Jupiters Haus.
Aber du, Neära, auch Göttin, und schöner als jene,
Welche den wogenden Pfad schiffend die Muschel geführt,
Warum spendest nach Zahl du die Küsse, die himmlischen Gaben?
Warum zählst du nicht auch, Harte, wie oft ich geklagt?
Zählest die Thränen du nicht, die vom Aug' und dem Busen hernieder
Heimlich rinnenden Thaus ewige Bäche gesandt?
Hast du die Thränen gezählt, dann zähle die Küsse auch: aber
Zählest die Thränen du nicht, zähl' auch die Küsse nun nicht,
Und, im verzehrenden Schmerz süßtäuschende Linderung, gieb mir,
Wie ich unzählig geweint, Küsse unzählig nun du.

 

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Übersicht

Gedicht aus: Die Küsse des Johannes Secundus
München Hyperion Verlag 1920
In der Übersetzung von Franz Passow [1786-1833]
(nach der Ausgabe Leipzig 1807)
(S. 19)
 


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