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Anna Nitschke
(1858-?)
Aspasia
Ihr tadelt meine Schritte,
Mein Thun dünkt euch verwirrt,
Ihr höhnt, daß von der Sitte
Weitab die Seele irrt.
Daß sie sich ungezügelt
Dem Sehnsuchtsdrang ergibt,
Vom eignen Wert beflügelt
Nur eines fühlt: sie liebt!
Geht immer eure Straße
Im Trott von Haus zu Haus -
Ihr meßt mit engem Maße
Mein weites Herz nicht aus.
aus: Unsere Frauen in einer Auswahl aus ihren Dichtungen
Poesie-Album zeitgenössischer Dichterinnen
Von Karl Schrattenthal
Mit zwölf Porträts in Lichtdruck
Stuttgart 1888 (S. 337)
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Das Schwerste
Du sagst, ein Lebewohl, gesprochen
Zu einem Wesen, das man liebt,
Zu einem Aug' im Tod gebrochen
Sei wohl das Schwerste, was es gibt.
O Herz, ich kann dir recht nicht geben,
Ein Lebewohl erträgt sich doch;
Mag auch die Hand beim Scheiden beben,
Die liebe Hand, du hältst sie noch.
Nur: Stunden, Wochen, Monde, Jahre
Zu leben noch nach solchem Schmerz,
Das Leid zu tragen bis zur Bahre:
Das ist das Schwerste für das Herz.
aus: Unsere Frauen in einer Auswahl aus ihren Dichtungen
Poesie-Album zeitgenössischer Dichterinnen
Von Karl Schrattenthal
Mit zwölf Porträts in Lichtdruck
Stuttgart 1888 (S. 338)
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Ich liebe dich!
Hast du ein kleines
Liedchen für mich?
Wohl hab' ich eines:
Ich liebe dich.
Seltsam im Anfang,
Seltsam zum Schluß.
Anfang: ein Lächeln,
Ende: ein Kuß.
aus: Neuere Deutsche
Lyrik
Ausgewählt und herausgegeben
von Carl Busse
Halle a.d.S. o. J. [1895] (S. 407)
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Biographie:
Nitschke, Frl. Anna, Ohlau, Preussisch-Schlesien, Friedrichsplatz, am
31. Januar 1858 ebenda geboren. Als Tochter eines sehr gebildeten
Kaufmanns, ist sie in einfachen Verhältnissen aufgewachsen und besuchte
die Volksschule mit Abschluss der Selecta. Ein schweres Ohrenleiden
hinderte sie, den beabsichtigten Lehrerinnenberuf zu erwählen. Sie gab
sich jedoch ernsten Studien hin und beschäftigte sich mit besonderer
Vorliebe mit Darwin, Nietzsche, mit sozialen und religiösen Fragen der
Gegenwart, verstieg sich sogar auf das Gebiet der Theosophie. Dabei
hatte sie den Alltagsforderungen nachzukommen und die häuslichen
Obliegenheiten auf das strengste zu erfüllen. So führte sie als
sechzehnjährige später ihrem Bruder, Lehrer in Chudowa, den Haushalt und
gegenwärtig steht sie ihrer Schwester, Kindergärtnerin, zur Seite. Ihr
hauptsächlichstes Feld schriftstellerischer Arbeit ist das der Poesie,
und die erste Sammlung, die sie, vielseitigen Aufforderungen nachgebend,
herausgegeben, "Freudvoll und leidvoll", hat ihr grosse Anerkennung von
Kritikern von Fach und innerem Beruf, wie Heinrich Hart, Oskar Linke,
Paul Barsch und anderen eingebracht. Aber auch nach anderer Richtung hat
sie sich schriftstellerisch bethätigt. Sie schrieb und schreibt Novellen
und Skizzen, und ohne eine Vorkämpferin der Frauensache zu sein,
arbeitet sie im Dienste der Freiheit für jegliche Geistesrichtung und
tritt in einfach geschriebenen, gemütstiefen Aufsätzen in den
verschiedenen Frauenblättern für die freie Entwickelung des Fortschritts
im Frauenberuf ein.
- Die Weihnachtsfeier im Kindergarten, in Gesang u. Deklamation nebst
Ansprache der Lehrerin.Wien 1890
- Freudvoll u. leidvoll. Lieder. Berlin 1884
- Zur Pflege des Familiensinnes. Vortrag, geh. im Breslauer
Handwerker-Verein. Guhrau 1894
aus: Lexikon
deutscher Frauen der Feder.
Eine Zusammenstellung der seit dem Jahre 1840 erschienene Werke
weiblicher Autoren, nebst Biographieen der lebenden und einem
Verzeichnis der Pseudonyme. Hrsg. von Sophie Pataky
Berlin 1898
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