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Freiin Hermance Potier
(1863-?)
Wie wir uns fanden
Nicht wie des Mondes sanftes Glühen,
Nicht wie der Sterne milde Pracht -
Nein, wie der Blitze wildes Sprühen
In schauriger Gewitternacht:
So war's in uns, als wir uns fanden!
Wir haben jubeln nicht gekonnt,
Des Unglücks schwerste Wolken standen
An uns'rem Schicksals-Horizont.
Wir schöpften nicht vom Honigborne,
Wir haben uns im Schmerz erwählt,
Gleich wie der Himmelsstrahl im Zorne
Nur mit der Erde sich vermählt.
Doch zuckt der Strahl, so steht wohl offen
Ein Stück vom ew'gen Äther dann;
Als uns der Liebe Blitz getroffen,
Ward auch der Himmel aufgethan!
(S. 351)
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Im Frühling
Ich traf dich jüngst auf sonn'gem Wege,
Am schönsten, klarsten Maientag,
Und mir erschien, daß auf dem Stege
Der ganze Frühlingsodem lag,
Es war ein Duften und ein Zittern,
Ein Wogen, Weben und ein Blüh'n,
Als stünd' nach labenden Gewittern
In frischer Pracht des Waldes Grün.
Und mit geheimnisvollen Banden
Verknüpfte Liebe rings die Welt;
Was Wunder, wenn auch wir uns fanden,
Vom Mai berauscht - vom Lenz erhellt!
(S. 351)
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Gedichte
aus: Unsere Frauen in einer Auswahl aus ihren Dichtungen
Poesie-Album zeitgenössischer Dichterinnen
Von Karl Schrattenthal
Mit zwölf Porträts in Lichtdruck
Stuttgart 1888
Biographie:
Potier, Freiin Hermance, Wien, geboren am 2. Dezember 1863 in Pressburg,
ist Dichterin.
aus: Lexikon
deutscher Frauen der Feder.
Eine Zusammenstellung der seit dem Jahre 1840 erschienene Werke
weiblicher Autoren, nebst Biographieen der lebenden und einem
Verzeichnis der Pseudonyme. Hrsg. von Sophie Pataky
Berlin 1898
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