Wilhelmine Rall (1768-1839) - Liebesgedichte

 

 

Wilhelmine Rall
(1768-1839)


Ludolf

Unbesucht von wilder Städterfreude
Liegt am Weserstrand ein dunkles Thal:
Eine einsam stille Schauerecke,
Durch der tausendjähr'gen Eichen Decke
Kaum erhellt vom milden Sonnenstrahl!

Hier fand Ludolf einst vor langen Jahren
Ruhe wieder, die sein Herz verlor.
In des Thales quellenreicher Mitte
Baut' er sich die stillste Siedelhütte,
Die er sich zum Aufenthalt erkor.

Sieben Jahr' bewohnt' er schon die Stätte,
Die kein menschlich Wesen sonst betrat.
Ruhig saß er einst in seiner Zelle,
Bei des kleinen Herdes warmer Helle,
Als der Hütt' ein Laut des Jammers naht.

Hülfreich eilte Ludolf flugs entgegen -
Ach! ein Mann, mit halb erlosch'nem Blick,
Saß verklommen starr am Bach im Eise;
Ludolf wärmt' ihn tröstend, reicht' ihm Speise -
Aber traurig giebt er sie zurück.

"Laß mich sterben - sprach er - denn mein Leben
Ist ein tobend Meer von Kümmerniß.
Lieber heiß' mein Scheidestündlein eilen!
Oder kannst du Herzenswunden heilen
Und der Reue tiefen Schlangenbiß?"

'Reue sühnt Verbrechen; - sprach der Siedler -
Groß ist Gottes Allbarmherzigkeit.
Er vergibt so gerne seinen Kindern,
Und des Herzens höchste Schmerzen lindern
Mitleidsthränen, Freundestrost und Zeit.

Armer, komm! vertraue mir dein Leiden!
Klebt unschuldig Blut an deiner Hand?
Hat das Glück den Rücken dir gewendet?
Hat dein Bett ein Bube dir geschändet,
Oder brach der Tod der Treue Band?'

"Nein. - Vernimm! am Weserstrande wohnte
Sonst ein treues hochbeglücktes Paar.
Eintracht siedelte an seiner Seite,
Liebe war sein ewiges Geleite,
Fern von Sorgen, Kummer und Gefahr.

Schön war Ludolf; seiner Jugend Blüthe
Hatte nie des Lasters Gift entweiht.
Auf der offnen deutschen Stirne thronte,
In des Edlen warmen Herzen wohnte
Nie verletzte deutsche Redlichkeit.

Schön war Lida, schön wie Göttin Freya,
Mit dem langen, blondgelockten Haar.
Ihr geschenkt von milden Sternen schienen
Ihre sanften Blicke, ihre Mienen
Und ihr großes blaues Augenpaar.

Da erlag mein Herz dem Zauberreize,
Ihrer Götterschönheit Allgewalt.
Einst zog Ludolf ferne zu Turniren;
Mit Gewalt ließ ich sein Weib entführen
Aus der Tugend stillem Aufenthalt.

Grausam eingekerkert ward die Holde,
Da sie fest und kühn mir widerstand.
Ludolf glaubte sich von ihr betrogen,
Und ist fort in fremdes Land gezogen -
Niemand sieht ihn mehr am Weserstrand.

Tief im Thurme starb die treue Lida -
Ha! ihr Geist folgt mir bei jedem Tritt!" -
Schrecklich fuhr der arme Mann zusammen,
Wankte fort, und nahm der Hölle Flammen,
O, das Brandmal seiner Seele, mit.

Ludolf staunt' und rief bewegt: 'Ach, Hermann!
Hermann komm! ich lindre deine Noth'. -
Nichts! ihn peitschte Angst; des Richters Wage
Wog sein Schicksal, und am andern Tage
Fand man ihn im Weserstrome todt.

Ludolf folgte Liden, wo die Seelen
Keine Menschenbosheit mehr verstimmt;
Wo kein Tod die Liebenden kann scheiden,
Und im Lebensquell für jedes Leiden
Milde tröstende Genesung schwimmt.
_____

 

Gedicht aus: Deutschlands Dichterinnen.
Blüthen deutscher Frauenpoesie
aus den Werken deutscher Dichterinnen der Vergangenheit und Gegenwart ausgewählt von Karl Wilhelm Bindewald
Osterwieck / Harz o. J. [1895] (S. 29-30)
 

 

 


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