Jegor von Sivers (1823-1879) - Liebesgedichte

Jegor von Sivers



Jegor von Sivers
(1823-1879)

Inhaltsverzeichnis der Gedichte:
 

 

 



Jubelruf

Du wonniges sonniges Grün der Au,
Wie grüßt du mich heut;
Wie hast du, unendliches Himmelblau,
Mich mächtig erfreut!
Wie locken die Wälder mich rauschend herbei,
Wie machen von Fesseln die Berge mich frei,
Wie lockest du feurig, Natur, Natur!
O blauer Himmel, o grüne Flur!

Die Liebe wogt mir in schwellender Brust,
Drum bin ich beglückt;
Sie hat mit unendlicher, himmlischer Lust
Mein Herz entzückt.
Drum lacht mir der Himmel, die Au, der Wald,
Die Blüten so jung, die Berge so alt.
Von deinen Augen ein wärmender Strahl
Erfüllt mein Herz und Berg und Thal.
(S. 13)
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Ein Wunsch, und der bist du!

Gleich wie voll Klang
Die Glocke wundersam erbebt,
Erzittr' ich bang,
Seitdem das Herz mir Liebe hebt.

Was still und tief
In meines Busens Räthselgrund
Verborgen schlief,
Erweckte heut dein Zaubermund.

Wie lacht voll Lust
Dein seelenvoller Blick mir zu!
In meiner Brust
Lebt nur ein Wunsch - und der bist du!
(S. 14)
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Stille Lust

Hat mich stille Lust betroffen,
Mag ich sie geschwind erfassen,
Bitter aber ist, vom Hoffen
Seines Herzens abzulassen.

Dulden will ich dennoch gerne,
Daß mich stetes Glück vermeide,
Leuchten der Erinnrung Sterne
Freundlich doch in meinem Leide.

Hätt ich Throne zu vergeben,
Nehmt sie hin zu allen Stunden,
Laßt mir nur für Tod und Leben,
Was die Brust so reich empfunden.
(S. 15)
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Die Rose

Das Röslein, das du mir gesandt,
Von kaltem Stein so marmorweiß,
Erglühte froh in meiner Hand,
Mein Odem weckte sanft das Reis.

Doch fern von dir, wie sollt es blühn?
Der Geist entfloh nur allzubald,
Und wieder starb das Blättergrün,
Und wieder ward die Blüte kalt!

Doch trägt auf leisem Fittich nun
Den Rosengeist ein Engel fort.
An deinem Herzen will er ruhn,
In seinem Himmel wohnt er dort.

Mir aber bleibt so marmorweiß
Die todte Rose nur zurück
Und mahnet: wie mein Herz so heiß,
Und wie so todt mein Lebensglück.
(S. 18)
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Liebes Angedenken

Diesen Samen, deiner Hand
Liebes Angedenken,
Will ich in ein fruchtbar Land
In der Heimat senken.

Wie sich Blatt und Blüt im Keim
Ueppig dann entfalten,
Wird dein Bildniß mir daheim
Sich aufs neu gestalten.

So gemahnt es Jahr um Jahr
Deiner in Gedanken,
Wenn die Blumen wunderbar
Neu zum Lichte ranken.

Jetzo, da ich scheiden muß,
Darf ich offen sagen,
Wie seit unsrem ersten Gruß
Dir mein Herz geschlagen.

Wie dein liebliches Gemüt
Balsam meinem Herzen,
Das sich trostlos oft gemüht,
Ward für alle Schmerzen.

Deiner Anmut hat ein Glanz
Freudig mich betroffen,
Ja, die schöne Seele ganz
Lag dem Dichter offen.

Wie der Gaben reiche Wahl
Tiefen Geist mir kündet,
Hat von deinem Aug ein Strahl
Meinen Geist entzündet.

Nun auf Nimmerwiederschaun
Muß ich fürderschreiten,
Doch ein tröstliches Vertraun
Wird mich fort geleiten.

Wenn die Blumen aus dem Keim
Blatt und Blüt entfalten,
Wird dein Bildniß mir daheim
Blühend sich gestalten.
(S. 64-65)
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Auf der Ueberfahrt

Spiegelhell das weite Meer,
Wolkenhimmel drüber,
Und die Segel hängen schwer,
Wollen nicht hinüber.

Langsam regt in träger Wucht
Sich die Ruderstange,
Zur verlaßnen Uferbucht
Schau ich lange, bange.

Ferne schon dem Aug entwandt
Thaut die Inselküste;
Daß im Leben dieses Land
Ich noch einmal grüßte!

Wieder zu der Heimat soll
Mich das Steuer bringen,
Doch die Seele bang und voll
Kann nicht freudig klingen.

Denn das kaum erhaschte Glück
Ist zu bald entsprungen,
Trostlos weinen hier zurück
Die Erinnerungen.

Liebes Mädchen, du, nur du
Konntest ganz mich trösten,
Deiner Seele heitre Ruh
Mich, den freudentblößten.

Und ich störte grausam, ach,
Deinen Herzensfrieden;
Seit die Liebe heimlich wach
Hat er dich gemieden.

Ja, ich sah beim Abschiedgruß
Dich zur Erde beben,
Nur vergeblich wollt der Fuß
Strauchelnd widerstreben.

Doch da faßte kühn mein Arm
Dich im Niedersinken,
Deinen Athem liebewarm
Sollt ich einmal trinken,

Einmal dich an meine Brust
In Verzweiflung schließen,
Auf dein Haupt in bittrer Lust
Eine Zähre gießen.

Und du seufzest hörbar kaum
Deinen Wunsch und Segen,
Ich nur konnte wie im Traum
Keine Lippe regen.

Und ich sah dich thränenschwer
Aus der Stube wanken,
Finster ward es um mich her
Wie dem Todeskranken.

Nur wer solchem Engelskind
Ewig muß entsagen,
Fühlt, was Angst und Qualen sind,
Und ich muß sie tragen. -

Wolken weinen leis und lind
Auf das Boot hernieder,
Doch versiecht in Trauer sind
Meine Augenlider.

Ferne hör ich Donnerklang
Dumpf und murrend dröhnen;
Auch mein Herz, verwaist und bang,
Kann sich nicht gewöhnen!
(S. 66-68)
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Indianische Liebesklage
aus Bolivia

Hattest einen leichten Fang,
Böser Herzensdieb,
Als mich Vöglein froher Klang
Zu den Blumen trieb.
Bindest mich mit falschem Zwang
Deiner Augen heut.
Frei zu Blumen hocherfreut
Flög ich mit Gesang;
Doch in deinem Felsenherzen
Wohnt kein Mitleid meiner Schmerzen.

Vöglein flattert ängstlich bang
In dem Käfig dort.
Als dir deine List gelang,
Trugst du rasch ihn fort.
Ach, in solchem Wehedrang,
Thränenbringer du,
Gieb mir wieder meine Ruh!
Zaudre nicht so lang,
Räuber, o gewähr in Hulden,
Nenne, nenne mein Verschulden!
(S. 71)
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Ewige Illusion

Die Ideale waren bunte Flitter,
Wie Zauberschlösser, die uns Feeen bauen;
Und kaum begann das frühste Morgengrauen,
War hin vom stolzen Bau der letzte Splitter.

Wie ist die Täuschung süß, die Wahrheit bitter!
Es ist so süß, den Weiberherzen trauen,
Es ist so schön, auf Lieb und Treue bauen,
Der Traum ist süß, doch ein Erwachen bitter.

Ob die Vernunft, ob der Verstand auch wehren,
Stets will das Herz auf ewge Liebe hoffen, -
Ein ideales thörichtes Begehren!

Enttäuschung hat mich, ach, zu hart betroffen!
Wann wird Erfahrung je die Menschheit lehren:
"Dem Ewgen nur steht ewge Liebe offen." -
(S. 92)
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Ein Decemberveilchen

Am Wintertag wie hast du heut,
Mein Frühlingsveilchen, mich erfreut,
Von unsichtbarer Mädchenhand
Ein zartes liebes Unterpfand.

Du zauberst mir mit deinem Blau
Zum Lenz die winterliche Au,
Und Frühlingsodem füllt die Luft
Bei deinem wunderbaren Duft.

Kaum lachte mir dein Angesicht
Keimt auch im Busen ein Gedicht.
Nun, kleines Liedlein, wandre du,
Der Geberin des Veilchens zu;

Verkünd ihr, wie bei Winternacht
Ein Liederfrühling mir erwacht,
Und wie sie selber froh und frei
Die Königin des Lenzes sei.
(S. 102)
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Heut laß mich Liebe schwören
(Aus einem dramatischen Gedichte)

Du hast gesiegt, urewig junge Macht,
Du kannst allein den Groll, das Hassen dämpfen;
Dir hab ich heut zum Opfer mich gebracht,
Und unter deiner Fahne will ich kämpfen.
Aus finstrer Nacht
Entblüht ein neuer Segen,
Den Busen fasset unnennbares Regen.
Der Stern der Lieb erglüht in hehrer Pracht
Und weckt das Lied berauschter Nachtigallen.
Ein tausendfacher Sang ist bald entfacht,
Und tausend Echo müssen Liebe lallen.
Ich bin erwacht,
Die kalten Nebel flohen,
Ein goldner Tag beginnt empor zu lohen.

O halte mich, du neuentflammter Mut,
Schon wankt der Boden unter meinen Füßen!
Mein Mark verzehret niegekannte Glut.
Jetzt laßt mich nicht, ihr alten Frevel, büßen.
O sei mir gut,
Mein Engel, deine Stärke
Verleihe mir zum halbvollbrachten Werke.

Ihr Elemente, hemmet eure Wut,
Zerstört nicht meinen Himmel, diese Erde,
Ich weih euch meine Seele, weih mein Blut,
Ich ruf euch an mit flehender Geberde:
Nur jetzt seid gut!
Heut laßt mich Liebe schwören,
Und dann - auf immer will ich euch gehören! -
(S. 117-118)
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Melancholie

Soll denn nie die Seele finden,
Was ihr einzig nur gefehlt?
Soll die letzte Hoffnung schwinden,
Die den Einsamen beseelt?

Ist denn unter all den Herzen,
Welche ruhn in Mädchenbrust,
Keines mir gemacht zu Schmerzen,
Keines mir gemacht zu Lust;

Unter ihren Geistern keiner,
Der den meinigen entzückt,
Mit sich fortreißt - auch nicht einer,
Der dem Zweifel mich entrückt?

Soll ich nach dem Ideale
Stets mich sehnen unerhört
Und des Lebens volle Schale
Sinken lassen qualbethört?

Bist du nur ein Hohngebilde,
Du, mein göttlich Ideal,
Und geschaffen süß und milde
Mir zu Pein und ewger Qual?

Werdet Fleisch! in eins verschlungen
Wort und Geist, - in einer Brust
Von der Gottheit rein durchdrungen
Mir zu Herz- und Augenlust;

Doch, sollst du mir nicht erstehen,
Die ich einzig nur gedacht,
Mag mein banger Geist zerwehen
In das Labyrinth der Nacht!
(S. 119-120)
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Einsame Liebesklage
(Estnisches Volkslied bei Fellin)

"Mit deinem Lebewohle
Schied alle Freude mir."
A. Böttger's Gedichte

Meinen Schatz entführten Wogen,
Fluten zogen ihn nach Rußland,
Lüfte wehten ihn nach Harjen,
Winde zu dem Türkenlande.
Wolken sandten ihn nach Polen,
Nebel ihn an deutsche Strande.

Winde, bringt ihm Wohlergehen,
Wolken, schenkt ihm langes Leben,
Himmel, eine treue Seele,
Schloßen, werft ihm zu die Briefe,
Nebel, bring ihm meine Küsse,
Viele, viele Herzensgrüße.

Wochenlang dich nimmer schauen!
Mondenlang von dir nichts hören!
Wie viel Wälder wol uns trennen?
Wie viel hohe Ebereschen,
Wie viel wilde Apfelbäume? -

Wo dein Roß auch stürm' und setze,
Wachs ein Häuschen aus dem Boden.
Wo dein Thier sich immer tummle,
Baue sich die Futterkrippe.
Und wohin dein Roß sich wende,
Thürme sich ein friedlich Kirchlein.
Gott behüte dich im Schlummer,
Könnt ich dir das Lager schmücken,
Deine Hand, Geliebter, drücken!
(S. 142-143)
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Heimlicher Gast
(Estnisches Volkslied bei Fellin)

"Als ich ein kleiner Knabe war,
Starb ich schier um wälsche Nüsse.
Da ich größer nun geworden,
Sterb ich schier um Mädchenküsse."
Ungarisches Volkslied

"Schatz, ich komme!" Heute, Käthchen,
Heute nicht, mein holdes Mädchen!
Gestern harrt ich sehnend deiner,
Einsam blieb die weite Runde.
Heute warten Gäste meiner;
Morgen doch in frühster Stunde,
Herzchen, will ich dich erwarten.
Wenn im Thau die Käfer summen,
Schlüpf herüber durch den Garten.
Drauf beim ersten Sonnenstrahle
Führ die Heerden ich zu Thale.
(S. 144)
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Die Brautwerbung
(Estnisches Volkslied bei Fellin und Pernau)

War einmal ein junges Weibchen,
Ging hinaus die Herde hüten.
Fand ein Huhn im Wiesengrase,
Trug es sorgsam mit nach Hause.
Aus dem Hühnchen ward ein Mägdlein,
Ward die schöne zarte Salme.
Lange harrten nicht die Freier,
Und es sandten ihre Söhne
Dreie: Sonne, Mond und Sterne. -
Und mit fünfzig schwarzen Rossen,
Sechzig kühnen Rossebändgern
Kam daher der Sohn des Mondes.
Aber Salme rief vom Speicher,
Sprach herunter aus dem Steinhaus:
"Mit dem Monde geh ich nimmer,
Zweien Aemtern muß er dienen.
Einmal steigt er aus der Dämmrung,
Aus dem weißen Abendnebel,
Dann aus kühlem Morgenthaue." -

Schau, mit fünfzig rothen Rossen
Kam der Sonne Sohn gezogen,
Aber Salme rief von ferne:
"Nein, zur Sonne geh ich nimmer!
Böse Weisen hat die Sonne.
Durstig schlürfen ihre Flammen
Aus dem Blau die letzte Wolke;
Aber wenn die Sensen blinken,
Braust in Strömen rings der Regen.
Streut der Sämann weißen Hafer,
Dörrt den Boden sie zu Staube.
Sie verschlingt die Hafersaaten,
Sie versengt die Gerstenfelder,
Fesselt in dem Sand den Flachshalm,
In der Furche selbst die Erbse,
Dörrt das Heidekorn am Hause,
Und die Linsen Blatt und Blüte." -

- Endlich kam der Sohn der Sterne,
Kam mit fünfzig goldnen Rossen,
Sechzig starken Rossebändgern.
Aber Salme rief vom Speicher:
"Bringt zum Stalle Sternleins Rosse,
Seinen Hengst zur besten Krippe,
Duftges Heu werft in die Raufe,
Hafer schüttet in die Tröge,
Hüllt das Roß in feine Linnen,
Breitet seidne Teppich unter,
Daß sein Huf in Hafer ruhe
Und sein Haupt in Seide schlummre.
Sternlein selbst mag sich erquicken
An dem säuberlichen Tische,
An der glattbehaunen Wandung
Auf der Bank von Eberäschen,
Bei der wohlgewürzten Schüssel,
Ueberstreut mit reichem Pfeffer."

Und man führt den Stern zur Tafel:
"Trinke, Sternlein, iß und trinke,
Lebe, Sternlein, leb in Freuden!"
Sternlein aber schlägt ans Schwert sich,
Daß der helle Goldschmuck klirret,
Daß die Silbersporen rasseln:
"Nein, nicht eher will ich kosten,
Bis ich sie begrüßt, die Schöne!
Führet Salme mir herüber!"
Salme rief vom Speicher drüben,
Von dem Hofplatz in die Stube:
"Langsam gürtet sich die Waise,
Langsam kleidet sich die Arme.
Niemand, der den Anzug wählet,
Keine Aeltern, die mich kleiden!
Frauen schmücken mich dem Gaste,
Alte Mütter aus dem Dorfe.
Du, mein Bräutgam, herzger Knabe,
Gönntest Zeit zu schlankem Wuchse,
Warte, bis ich nun mich schmücke."
(S. 145-147)
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Estnisches Brautlied einer Waisen
(aus Wierland)

Einsam bin ich wie das Birkhuhn,
Doch das Birkhuhn hat Gefährten!
Einsam bin ich wie die Schwalbe,
Doch die Schwalbe hat ein Männchen!
Einsam bin ich wie der Kranich,
Doch zu sechsen zieht er landwärts!
Wie ein Schwan so bin ich einsam,
Doch der Schwan hat seinen Liebsten!
Einsam bin ich und alleine!
Vater ruht im tiefen Grabe,
Mutter auf dem Gottesacker.
Wölfe lullten mich in Schlummer,
Bären pflegten mich im Walde,
Rehe waren mir Gespielen.

Jedem wol ward Haus und Heimat,
Wohin wandl ich Vaterlose?
Wohin wandr' ich Mutterlose?
Wohin wall ich Bruderlose?
Hin zum Steine, hin zum Stamme,
Hin zum Baume, hin zur Tanne,
In den Schooß der schlanken Erle,
In den Schutz der Birkenarme,
Unter den Fittich grauer Espen? -

Wem enthüll ich meine Sorgen?
Wer verstehet meine Klagen?
Und mein Zorn, wen soll er treffen?
Hier den Stein am Kirchenwege?
Diesen Fließ im Feld des Priesters?
Könnte doch ein Felsen reden,
Und der schwere Fließ erzählen!
Nicht verstehn sie meine Sprache,
Nicht das Flehen junger Bräute.

Klag ich dir, du Ringelblume,
Jammr' ich dir, o Rebenholde,
Oder wein dem jungen Grase?
Wenn sie meinem Jammer lauschen,
Wenn sie meine Klagen hören,
Muß die Rebendolde welken,
Ringelblümchen muß verglühen,
Und das Gras im Thal verblühen. -

Sonntag wallt ich arme Waise
Mit dem Schwesterlein zur Kirche,
Weißes Linnen auf dem Haupte,
In den Händen weiße Tücher,
Feucht mit Thränenschrift gezeichnet.
Laß uns gehn zu Mutters Grabe,
Folge mir zu Vaters Hügel!
- Aus der Tiefe scholl die Stimme:
Wessen Tritt ertönt im Sande,
Und erdröhnt am Grabesrande?
Ich entgegnete mit Seufzen,
Deine Tochter wallt im Sande,
Ihr Tritt hallt am Grabesrande.
Steig empor, du treuer Vater,
Kehre wieder, liebe Mutter!
Bräutlich mir das Haupt zu schmücken,
Festlich meinen Fuß zu zieren,
Hochzeitgaben zu bereiten,
In der Lade sie zu ordnen! -

Aus dem Grabe rief die Mutter:
Armes Kind, nicht darf ich kommen,
Schlummern muß ich Grabesschlummer.
Seidner Rasen sproßt am Hügel,
Weiches Gras entkeimt dem Grabe.
Ob den Augen Blumenfelder,
Ob den Brauen Blütenlüfte,
Mir zu Füßen Ulmenwälder,
Mir zu Häupten Lindendüfte.
Möge Gott das Haupt dir zieren,
Mag Maria aus der Lade
Dich mit Gaben hochbeglücken,
Festlich dir die Füße schmücken." -

"Mutter, Mutter, hör mein Flehen,
Laß dein Kind nicht trostlos gehen!" -
"Töchterchen, mein Schlaf ist ewig!
Treib die Stiere an den Hügel,
Laß die Rinder drüber grasen.
Solches Gras macht starke Rinder,
Solches Futter große Stiere." -
"Gäb es heut ein Auferstehen;
Könnt ich, ach, die Gräber trennen,
Nach dem Spaten wollt ich gehen,
Aus der Stadt die besten holen,
Von dem Markt die schönsten nahmen,
Wollte froh die Schaufel schwenken,
Sand und Grand vom Boden lösen.
Weithin würf ich dann die Erde,
Und den Kies zum Kirchenwege
Und den Sand zur Stadt hinüber! -

Doch es giebt kein Auferstehen,
Kein Erwachen aus dem Grabe.
Nimmer soll ich wiedersehen,
Die ich einst bestattet habe!
(S. 148-151)
_____



Frühling

Es kam mit den warmen Nächten
Die Nachtigall geflogen,
Und singend ist die Liebe
Mir in das Herz gezogen.
Wenn nun die Sterne flimmern,
Und still die Nachtluft geht,
Dann strömet aus in Liedern
Ein sehnendes Gebet.

Und was mit stillem Grämen
Mein Herz in sich verschlossen,
Hat namenloses Sehnen
In einen Klang ergossen.
Auf weichem Windesfittich
Hebt sich der süße Laut,
Und aus den Sternen strahlet
Dein Name, holde Braut.
(S. 201)
_____



Die Nachtigall

Und als wir in der Laube
Die Küsse heimlich getauscht,
Da hat uns eine Nachtigall
Belauscht.

Doch als wir am Theetisch saßen,
Mit uns manch fremder Gast,
Da blickte die Nachtigall gar klug
Vom Ast.

Kaum daß sie nur ihr Liedchen
Mit süßer Kehle begann,
So sahen wir errötend still
Uns an.

Gleich waren wir verrathen,
Von Tanten und Vettern bewacht -
Das hast du, böse Nachtigall,
Gemacht! -
(S. 202)
_____



Mikrokosmos

Ich saß mit ihr an einem Quell,
Sie sah hinab zur Murmelwell,
In ihres Auges hellem Glanz
Begann der Silberwellen Tanz.

Drauf schickte sie den Blick zum Wald,
Und wie durch Zauber alsobald
Erschien das Grün so düftemild
In ihres Auges schwarzem Bild.

Dann blickte sie auf Feld und Flur,
Und schnell verschwand des Waldes Spur,
Und durch die Wiese zog der Bach
Der blauen Ferne sehnend nach.

Jetzt Wonne, schaut sie himmelan,
Der Himmel hat sich aufgethan!
Welch wundertiefer ernster Schein,
Und doch so lieblich klar und rein!

So lang ihr Auge mir noch strahlt,
Bleibt Erd und Himmel frisch gemalt,
Und Erd und Himmel sind mein Reich,
Drin herrsch ich einem König gleich.

Und schließt ihr Auge Todes Nacht,
Dann stirbt auf ewig all die Pracht,
Das Reich der Freuden ist nicht mehr,
Und Welt und Herz sind todt und leer.
(S. 203-204)
_____



Liebe über Alles

Was zucket weiter durch den Raum,
Als wie die Sterne strahlen?
Was malet schöner, als wol kaum
Die größten Maler malen?

Was ist noch tiefer als das Meer,
Was wilder als die Wogen?
Was kommt noch brausender daher
Als ein Orkan gezogen?

Was zucket wie der Blitz so schnell
In flüchtiger Sekunde?
Was leuchtet wie die Sonne hell,
Wer giebt mir davon Kunde?

Selbst der Gedanke sieget nicht
Mit also starkem Triebe:
Denn alle Schranken nur durchbricht
Allein die Macht der Liebe.
(S. 205)
_____



Zauber

Durch meine Träume drang
Ein wunderbares Läuten,
Ich sinne stundenlang:
Was mag der Ton bedeuten?

Durch meinen Schlummer weht
Ein Hauch der Frühlinglüfte.
Ich sinne früh und spät:
Was wollen diese Düfte?

Durch meine Nächte winkt
Ein Stern mit sanftem Leuchten,
Und wenn er niederblinkt
Muß sich mein Auge feuchten.

Durch meine Seele streicht
Ein ungewohntes Beben.
Wer, eh der Zauber weicht,
Kann mir die Lösung geben?
(S. 206)
_____



Blumenschmuck

Schmückt in Blumen sich die Dirne,
Blumen, die sich zärtlich schmiegen:
Jenes Röslein an der Stirne,
Jenes Sträußlein an dem Mieder,
Die sich hin und wieder
Wiegen.

Ein Vergißmeinnicht, das nicket
Aus der Locken dunklem Kranze
Eng verschlungen und verstricket,
Möcht ihr gern am Herzen kosen,
Schwingen sich im losen
Tanze.

Und am Kleid in bunten Reihen
Tausend andre Blümlein schaukeln,
Liebetreu gepaart zu zweien.
Wie sie flüstern, nicken, lauschend,
Heimlich Blicke tauschend,
Gaukeln!

Und mir ist, als wenn die Blüten
Und die Blumen, wie sie klingen,
Einst aus meinem Hirne sprühten:
Bunte, heiße Liebeslieder,
Die sich hin und wieder
Schwingen.
(S. 207-208)
_____



Am Vorabend ihres Geburtstages

Mein heiß Gebet steigt auf zu jenen Räumen
Der dunkeln Nacht,
Wo Mond und Sterne wonnetrunken säumen
Und Friede wacht.

Die Stunde nahet, da den selgen Landen
Das Kind entschwebt,
Das jetzt mit ewig festen Liebesbanden
Mein Herz umweht.

Ihr frommen Engel steiget zu ihr nieder
Ins Kämmerlein,
Und lasset mild ertönen eure Lieder
So lieb und rein!

O, gebt ihr dann im holden Traum die Kunde
Von meiner Treu,
Und sagt, daß ich zu jeder, jeder Stunde
Ihr eigen sei!
(S. 209)
_____



Der Nachtwandler

Am dunkeln Bergeshang
Wall ich allein,
Es flüstert Mitternacht so bang
Im Sternenschein.

Ich lausch hinab die Schlucht,
Der Quell nur sprach
Im Frühlingstraum von seiner Flucht
Der Liebsten nach.

Das rauscht das Wipfelmeer
Hoch über mir,
Und seufzet wie im Schlafe schwer
Manch Lied von ihr.

Der Mond sieht bleich und blaß
Durch Laub mich an.
Ich eile fort - das Auge naß -
Die dunkle Bahn.

Laß mir, o Mond, den Schmerz,
Sie liebt nicht mehr!
Gab ich auf ewig auch mein Herz,
Sie liebt nicht mehr!
(S. 210)
_____



Der letzte Sonnenstrahl und die Nacht

Auf der Wolke dort entschlummern
Will der letzte Sonnenstrahl,
Und heran in bitterm Kummer
Schwebt die Nacht so bleich und fahl,

Und sie knieet händefaltend
Hin zum Untergange, kaum
Athmet sie und flehet bange,
Und berührt der Wolke Saum.

Doch den Strahl erreicht sie nimmer,
Denn er fliehet ihre Spur.
Weinend wallt die Nacht und düster
Durch die goldbesäte Flur.

Jener Sonnenstrahl, o Mädchen,
Jener letzte, ist dein Bild,
Und die Nacht mit stummem Beten
Ist mein Herz von Gram erfüllt.
(S. 212)
_____



An meine Lyra
Anakreon, Ode I.

Will ich die Atriden singen,
Und dem Cadmus Lieder bringen,
Tönet meiner Lyra Gold
Stets nur in der Liebe Sold.

Saiten tauscht ich jüngst und Leier,
Daß zu des Herakles Feier
Rausche ihrer Lieder Ton,
Doch die Zither sprach mir Hohn.

Sang von Liebe immer wieder!
Lebt denn wohl, ihr Heldenlieder,
Und du, Laute, tön allein
Von der Liebe süßer Pein.
(S. 216)
_____

Aus: Palmen und Birken
Dichtungen von Jegor von Sivers
Zweite durchgesehene und stark vermehrte Auflage
Leipzig Verlag von J. J. Weber 1853

 


Biographie:

Jegor von Sivers, am 1. (13.) November 1823 auf dem väterlichen Gute Heimthal in Livland geboren, besuchte die Krümer'sche Schulanstalt zu Werro und studirte 1843-45 an der Universität Dorpat Naturwissenschaften und Staatswirthschaft. 1850 ging er auf Reisen. Er durchstreifte Centralamerika, die Inseln Westindiens, Südamerika und wandte sich nach längerem Aufenthalte in St. Thomas de Guatemala nach London. Alsdann besuchte er Paris und Orleans, verschiedene Gegenden und Städte Deutschlands und kehrte darauf nach Livland zurück. Hier widmete er sich der Bewirthschaftung des Ritterschaftsgutes Planhof, heirathete, erwarb das Gut Raudenhof und fand neben seiner ökonomischen Thätigkeit genügende Muße für litterarische Arbeiten und einen angeregten persönlichen und brieflichen Gedankenaustausch. Seine Landsleute ehrten ihn durch Ernennung zum Mitglied mehrerer wissenschaftlicher und praktischer Gesellschaften, sowie auch durch ein Mandat zum Landtage, an dessen Verhandlungen Sivers regen Antheil nah. 1873 wurde er als Professor der Landwirthschaft an das Baltische Polytechnikum nach Riga berufen, wo er sich nunmehr für die Dauer der Vorlesungen niederließ. Er starb daselbst am 12. (24.) April 1879.

Aus: Das Baltische Dichterbuch Eine Auswahl deutscher Dichtungen
aus den Baltischen Provinzen Rußlands mit einer litterarhistorischen Einleitung
und biographisch-kritischen Studien herausgegeben von Jeannot Emil Freiherrn von Grotthuß
Zweite durchgesehene und bearbeitete Auflage
Reval 1895 Verlag von Franz Kluge (S. 452)


siehe auch: http://www.deutsche-biographie.de/sfz80392.html


 


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