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Agnes Gräfin zu Stolberg
(1761-1788)
Inhaltsverzeichnis der Gedichte:
An ihren Stolberg
Melodie!
Schöne Vertraute der liebenden Seele,
Mit der sie tauchet in's Meer der Empfindung,
Mit der sie schwebet über die Sonne,
Hoch über der Sterne harmonischen Tanz;
Melodie! komm' herab! komm' von dem Himmel,
Wo du der Lippe des seligsten Engels entschwebtest,
Komm' und schmiege fest an die Seele dich mir,
Daß sie dir flüst're die Worte der Liebe,
Bekleide, umgib sie, wie Strahlen die Sonne,
Entschwebe dann, reiß sie dahin!
Im Fluge werde leiser, wenn du
Schwebest näher und näher heran,
Bald ihm rührest die Seele,
Die feinste Saite der Seele!
Flüstre, seufze, säusle nur dann:
Ich liebe, ach! dich lieb' ich allein!
aus: Deutschlands
Dichterinnen
in chronologischer Folge
herausgegeben von Abraham Voß
Düsseldorf 1847 (S. 150)
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An Friedrich Leopold, Grafen zu Stolberg
Wülfingerode bei
Nordhausen, am 9. Februar 1785
Die Kraft des Geistes, über Land und Meer
Sich hin zu schwingen zum entfernten Freund,
O, welch' Geschenk des Allbeseligers!
Wen muntert nicht des edlen Freundes Bild
Zur Tugend auf? - Das deine, theurer Fritz,
Liebt' ich, bevor mein Auge dich geseh'n;
Schon da entflammt' es oft zur Tugend mich.
Doch öfter schwebt's und freudiger mir vor,
Seit, an der Elbe Strand, mit dir ich sah,
Von Blüthenduft umweht, den Abend sanft
Erröthend flieh'n. Ich fand in dir vereint,
Was ich gesucht, gleich trefflich Herz und Geist. -
Den hohen Dichter ehrt' ich lange schon
In meinem Fritz; doch mehr, unsäglich mehr
Ward er mir nun, als Gatte, Bruder, Freund.
Die Trennungsstunde schlug. Wer saget, was,
Voll schönen Kummers, dann die Seele fühlt,
Wann Trennung sie beklemmt, und, Nebeln gleich,
Die spät im Herbst die Abendsonn' erhellt,
Der Traum genoss'ner Freuden sie umschwebt?
Die wehmuthvollste Thräne sagt's nicht ganz -
Nun eil' ich, trotz der Trennung, oft zu dir
Auf Geisterschwingen, unaufhaltbar, hin.
Im Kreise deiner Theuern seh' ich dich,
Wie du Natur und Kunst, der Menschen Werth,
Der Freundschaft himmlisch Glück zu schätzen weißt;
Und schickt mir Gott der Freude Stunden zu,
Gesandtinnen des Himmels, sieh! alsbald
Steht auch dein liebes Bild vor mir, und dann
Kann ich von dir nicht schweigen. Frei und laut
Verkünd' ich jedem Edelfühlenden:
"Er, Deutschlands Stolz, Fritz Stolberg, ist mein Freund!"
Doch g'nüget dir's, wenn so mein volles Herz
Von Freund zu Freund die Heroldskunde macht?
Und wäre dir, du Unvergeßlicher,
Nicht auch einmal, schweigt deine Feder gleich,
Ein kleiner Brief von deiner Freundin lieb?
Wohl! Höre denn, wie jetzt Elisa lebt.
Von Höfen fern und vom Geräusch der Welt,
Genieß' ich hier der Freuden reinen Kelch,
Der nie sich leert, weil Schönheit der Natur
Und Freundschaft stets das Schenkenamt verseh'n.
Hercynia, die Wolkenträgerin,
Durch Silberreif und ewig Eis verschönt,
Und rings herum Quellwasser, Wald und Thal,
Entzückt das Auge; Göckingk's edler Geist
Hebt aber doch Elisa's Seele mehr,
Als alle Pracht der wechselnden Natur.
Sein Landhaus schließt mich und die Lieben ein,
Die, fernher von des Vaterlandes See,
Bis an die Zorga, freundlich mein gepflegt.
Der Musen, wie der Tugend, heil'ger Sitz
Ist meines Freundes Landhaus dem, der ihn,
Das liebenswerthe Weib an seiner Hand,
Sieht wandeln durch des Lebens Labyrinth.
Was anmuthsvoll uns seine Muse lehrt,
Das lehrt, o Fritz, sein häuslich Leben mehr.
O! schautest du in Göckingk's Herz mit uns,
Du fändest unverzeihlich, daß - - Wohlan!
Es fluth' hervor, was keine Schleuse zwingt!
Darstellt' ich dein und deiner Lieben Bild
Amalien und ihrem Amaranth.
Wie freute eurer Seelenwürde sich
Dies edle Paar! Sie riefen: "Schöne Welt,
Worin es noch so wahre Menschen gibt!
Pflanzt Eigennutz und Menschenhaß auch auf
Des Wallers Pfad der Dornen viel; sie wird
Für den, der Freunde liebt, zum Paradies."
Doch Göckingk wischte schnell verstohlen sich
Aus blauen Augen eine Thrän', und wollt'
Erst nicht gesteh'n der Thräne wahren Quell.
Da führt' er schweigend an das Fenster mich,
Hinzeigend nach dem Berge, welcher dir
Den Namen gab, und seufzt', und endlich floß
Das Herz ihm über: "Sieh', Elisa, dort,
Dort war dein Freund im letzten Sommer; doch
Nicht hier! und wußte gleichwohl, daß ein Herz,
Nicht unwerth seiner, ihm entgegen schlug!" -
Verzeih' mir's, Göckingk, daß ich's ihm verrieth!
Verzeih' auch du den freundlichen Verweis!
Du hast um eine Freude dich gebracht,
Die dir so nah', du Freudensucher, lag;
Denn wiss': ich kenne kaum ein Herzenspaar,
Das die Natur so für einander schuf!
O! lasset beide mich den Priester sein,
Der euch zusammengeb'! Ihr liebt euch ja
So lange schon. Was säumet ihr dennoch!
aus: Deutschlands
Dichterinnen
in chronologischer Folge
herausgegeben von Abraham Voß
Düsseldorf 1847 (S. 147-149)
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Sie an Ihn. Auf einer Herbstreise
Der Abend sinkt,
Kein Sternlein blinkt,
Am Himmel winkt
Der Mond uns nicht
Mit mildem Licht.
Die Nacht ist kalt;
Der Hohlweg schallt;
Es saust der Wald,
Es rauscht der Bach
Mir Schauer nach.
Ich schließe mich
Gar ängstiglich,
Mein Freund an dich;
O küsse du
Ins Herz mir Ruh'!
So wall' ich gern,
Von allen fern,
Auch ohne Stern:
Wenn nur bei Nacht
Die Liebe wacht.
aus: Musenalmanach
(Hamburger) 1784
zitiert aus: Friedrich Leopolds Grafen zu Stolberg
erste Gattin Agnes geb. von Witzleben
Ein Lebensbild aus der Zeit der Empfindsamkeit
Von Otto Hellinghaus
Köln 1919 (S. 22)
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Der größte Gedanke
Wann er die Seele mir einnimmt,
Der einzige große Gedanke,
Wie sie im Taumel der Wonne dann schwimmt!
Wie mir ein Feuer die Adern durchglimmt!
Wie ich bald steh' und bald wanke,
Wenn ich denke in Freud' und in Not:
Der Herr ist Gott! Der Herr ist Gott!
Seh' ich mich um in der Natur,
Seh' ich in jeglichem Wesen,
O, seh' es im Feld, auf blumiger Flur,
Im Wald und in Wiesen seh' ich die Spur
Vom höchsten, unendlichen Wesen.
Es danke dir, Herr, wer stammeln kann,
Ich bete auf ewig, o Vater, dich an!
O, fülle doch immer die Seele mir so
Wie jetzt, wenn ich dich denke,
Größter Gedanke! Daß freudig und froh,
Wenn mir die Seele zur Zukunft entfloh,
Ich es zum Troste mir lenke!
Laß immer mich handeln so, daß ich dann
Bei jeder Handlung beten kann!
aus: Friedrich Leopolds Grafen zu Stolberg
erste Gattin Agnes geb. von Witzleben
Ein Lebensbild aus der Zeit der Empfindsamkeit
Von Otto Hellinghaus
Köln 1919 (S. 89-90)
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Wiegenlied
Schlummre, Bübchen, schlummr' im Schoß
Deiner Mutter sorgenlos;
Keine Mücke nahet sich,
Meine Liebe wacht für dich.
Für uns beide wacht der Herr,
Kind und Mutter schützet er;
Seine Kindlein klein und groß
Ruhen all in seinem Schoß.
Hier in stiller Nächte Ruh
Sieht er deinem Schlummer zu,
Hört mein inniges Gebet,
Das für dich um Segen fleht.
Über Blumen schwebt dein Fuß,
Dich umtönt der Liebe Gruß;
Wie dein blaues Auge hell
Blinket dir der Freude Quell.
Wachse, Bübchen, werde gut,
In dir wallt ein edles Blut;
Bist von biederem Geschlecht,
Fürchte Gott und tue recht!
aus: Friedrich Leopolds Grafen zu Stolberg
erste Gattin Agnes geb. von Witzleben
Ein Lebensbild aus der Zeit der Empfindsamkeit
Von Otto Hellinghaus
Köln 1919 (S. 94)
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Aus: Die Insel von Friedrich Leopold Graf zu Stolberg
Leipzig 1788
Kapitel: Aura. Eine Erzählung von Psyche
["Sie ist die Psyche der 'Insel'; von ihr ist die Erzählung,
welche der Psyche zugeschrieben wird," schreibt Stolberg
am 3. Oktober 1788 an Bürger]
Der Nacht Schatten wallte wie ein Schleier die Gebirge herab, und schon
war die Sonne ins Meer gesunken, ihre scheidende Strahlen rötheten den
westlichen Himmel, wie der Mai den schönen Busen der weißen Rose. Noch
irrte Aura in den Thälern umher, und merkte den Thau des Grases nicht, der
ihre Füßchen netzte, wenn sie über die blumigen Weiden bald eilend
schwebte, bald mit langsamen Schritten die wallende Seele umhertrug.
Das Blöken ihrer Herde, die sich nach ihrer gewohnten Ruhe sehnte, mahnte
sie nicht an die Heimkehr; ihr Herz war zu voll, um das was um sie her
lebte zu achten. Sie kam ans Ufer des Sees, an dem ihr, ach vor kurzem
noch! die Tage wie Augenblicke in süßer unschuldiger Freude hingeschwunden
waren. Hier sank sie, von Wehmuth und Schmerz ermattet, an einem Stein.
Ueber sie hin duftete liebliches Geißblatt seine ersten Blüthen aus, auf
des Schilfes Gesäusel wehte der See ihr Erfrischung zu, und sanfter Lüfte
Flügel kühlten ihre brennenden Augen, die keine Thräne mehr hatten. Leise,
nach manchem Seufzer, begann ihre Klage, verlor sich erst im Lispel des
Schilfes, dann stieg sie auf, wie aus der Nachtigall Kehle die
seelenschmelzende Stimme: "Bin ich für immer elend, und wird nie mein
Schmerz sich enden? Soll ich mein Leben verweinen im dunkeln Thale des
Jammers, und werden mir nie der Freude Tage mehr lächeln wie Morgenroth?
Rinaldo! Rinaldo! wie kann mein Bruder dich hassen, der du
so liebend und liebenswerth bist! - Ach wie wallte mein Herz, wenn oft in
traulichen Reden der Vater Sohn dich nannte, und die Mutter wie ihren
Eingebornen dich liebte! nun hassen sie dich, weil Duro dich
hasset. Nur ich liebe dich noch, und will so lang' ich athme dich lieben!
Meine Seele ist mit der deinen verwebt, die Liebe hat sie mit Faden
umwunden, die feiner wie Aether sind, und fester wie die Bande des Lebens!
Aber du bist ferne von mir, Rinaldo! und unsre Schritte begegnen im
Irren sich nicht; uns trennen vielleicht unendliche Höhen und Tiefen! Mein
Jammer dringt nicht zu dir, und ich höre die Seufzer deiner Liebe nicht! O
daß eine Felskluft uns deckte, die Zuflucht der weißen Kaninchen, oder wir
auf den Gipfeln der Berge wohnten, wo in stolzer Ruh der Adler sein Nest
bauet! die Pfeile meines Bruders sollten uns da nicht treffen, und die
Flammen seiner Augen würden nicht mehr die Rosen meiner Wangen bleichen!"
So klagte die schöne Aura, und die Worte erstarben in ihren
Seufzern, welche die Lüfte des Sees verwehten. Sie wußte nicht, daß in
ihren quillenden Thränen der aufsteigende Mond sich sah, wie im Tropfen
Thau an des Geißblatts zarter Blüthe, die auf den Locken ihrer Stirne
bebte. Bald aber sahe sie den stillen Vertrauten ihrer Schmerzen, blickte
ihn traurig an, und erhub sich, der Heimath gedenkend. Sie staunte, als
sie ihre Lämmer schlafend fand, die sie umsonst an die späte Stunde
gemahnet hatten. Eilend trieb sie sie nun vor sich her. Sie säumten nicht,
und hüpften die wohlbekannten Steige zur Hütte entlang, und mit bangem
Herzklopfen trat Aura in die Thüre, die für sie nur noch aufstand.
Die Eltern sagten ihr nichts, ob sie gleich wegen ihres ungewöhnlichen
Säumens gesorgt hatten, und Aura eilte zum Schwesterchen in die
Kammer; diese saß auf ihrem kleinen Lager und weinte, hatte des Schlafes
sich lange erwehrt, um noch die Schwester zu liebkosen. "Kommst du
endlich?" sagte sie schluchzend, und schmiegte das gelbgelockte Haupt an
ihre Brust, und küßte ihr mit Inbrunst die Hände. Aura drückte sie
an ihr Herz, sie konnte nur so antworten. "Ach," sagte die kleine
Medora, "ich konnte gar nicht schlafen, weil du mich nicht wie sonst
ins Kämmerchen führtest, und unter schönen Geschichten entkleidend zu
Bette legtest. O süße Schwester! es thut mir so weh, daß der Vater dir
nicht so freundlich wie sonst ist, und wenn die Mutter heimlich weint, und
ich frage warum? - sie seufzend dich nennet, deren Namen sie sonst nur mit
Freuden erfüllte."
"Traure nicht um mich, du trautes Kind!" sagte Aura - "Schlafe nur
sanft, und freudig sei dein Erwachen! O daß deine Tage in ewiger Wonne
wechseln mögen, und deinem entknospenden Leben kein tödtender Wurm sich
nahe, der an den ersten Blüthen nagend das Haupt dir beuge!"- Sie wiegte
an ihrer Brust den kleinen Engel, bis der trauliche Schlaf sie in die Arme
nahm.
Nun ging Aura noch hinaus zur Mutter, und bat sie um ihren Segen
zur Ruhe; sie sank vor ihr auf die Knie, umschlang sie mit bebenden Armen.
"Mutter! ach Mutter!" stammelte sie - mehr ließ sie die Wehmuth nicht
reden. Leise schob, die Hand vor dem Busen, die Mutter sie weg, und wandte
ihr Antlitz, die steigende Thräne zu bergen. Wie sie aber auf ihrer Hand
des Kindes heiße Lippen, die Thränen in den herabwallenden Locken, das
Klopfen ihres lieben Herzens im schönen Busen fühlte! - Da entglitt ihr
die Hand, sie beugte ihr nun feuchtes Gesicht über die glühenden Wangen
der Tochter, die in Schmerzen versunken an ihrem Herzen lag. Der Mond der
ins Fenster schien, erleuchtet sie in dieser rührenden Stellung, und die
Mutter blickte auf ihr schönes Kind herab, das vor ihr lag, wie ein weißes
Lämmchen, welches, eben von der Höhe eines jähen Felsen herab gestürzt, in
seiner leblosen Betäubung da liegt. Ihre Seele ward bewegt, und sie
drückte sie heftig an ihre Brust, bedeckte sie mit strömenden Thränen!
"Süßes, geliebtes Kind! du marterst mein zerrißnes Herz mit deinen Qualen,
die du dir aber doch selber bereitest. Erfreue mich und uns alle wieder,
und folge unserer weisern Erfahrung."
"Hast du denn nie geliebt, Mutter? - und könntest du Blumen, die du mit
eigner Hand und warmen Herzen gesäet hast, so in ihren Knospen ausreißen,
ehe du sie blühen gesehen, und dich an ihrer Schönheit Glanz, an ihrem
labenden Duft dich gefreut hättest, wovon dir die Seele so viele Bilder
vorher schuf?"
"Schweige von Liebe, du bist noch ein Kind und kennest sie nicht! Wie
kannst du dir Freuden von dieser Liebe versprechen, die dein Bruder mit
Abscheu verfolgt, und wir mißbilligen müssen?" "Ach Mutter! du redest
wider dein Herz; oder hast du die Tage wirklich vergessen, wo du mit
Mutterliebe an ihm hingst, und oft dein segnender Blick auf uns sank? Mild
wie die Sonne an den ersten Blüthen des Frühlings glänzt, und sie mit
belebenden Strahlen der schönsten Reife entgegen bringt." "Geh zur Ruhe,
mein Kind!" sagte seufzend die Mutter, und erhub sich. Schweigend verließ
sie Aura, und wankte zur Kammer, wo ihr Schwesterchen sanft athmend
schlummerte. Auf ihren Wangen hatte rosenblühende Schönheit, mit der Lilie
Unschuld sich verwebt, und ruhig lag sie in ihren gelben Locken, gleich
einem schlafenden Engel, der in den ersten Stunden seiner Erschaffung in
seliger Ruhe da liegt. Aura sahe sie an, die Hände über den Busen
gefaltet. "Ach daß die Ruhe mich so umwehte wie dich, du holdseliges Kind!
und des Schlafes Flügel mich deckte!" Sie legte ihre Hand noch auf des
Kindes Herz und es that ihr wohl sein Klopfen zu fühlen. "Du verkennest
mich nicht und liebst mich, du Kleine, und wünschest mich glücklich zu
sehn; das höre ich in jedem Lispel deines sanften Odems, der meine Seele
erquicket, wie in der Mittagshitze ein kühlendes Lüftchen die lechzende
Blume erfrischet!" Aura legte sich nieder; doch die Liebe ließ sie
nicht ruhen, sondern füllte ihr Herz mit traurigen Bildern, die vor ihrer
Seele überwallten, wie über des Thales Quelle die Nebel der Gebirge; dicht
und trübe steigen und sinken sie, und wenn der Tag auch wiederkehret, so
beglänzt der Sonne milder Strahl sie doch nicht, und der Schimmer des
Mondes erhellet sie nicht, noch kein Flimmern der grünlichen Sterne.
Die arme Aura war zu selig gewesen, von dem ersten Seim der Liebe,
mit dem ihr die Unschuld die Lippen genetzt hatte! Ihr war wie dem
Sonnenküchlein*, das noch, im starren Arm des Winters
schlummernd, vom ersten Kuß des Frühlings leise geweckt sich reget, die
Augen öffnet, entzückt umherschaut, die Flüglein breitet, sich hebet, und
ach! ins Blaue sich wagt - es schwebt - es schwirrt im labenden Strahl der
Sonne! senkt sich ins Veilchen, und taucht das Zünglein in duftigen
Nektar, will trunken werden; da, sieh! - ein wilder Sperling flattert und
scheucht es! - Es zittert, und flieht - lange verfolgt es der Räuber! -
Rinaldo kam zur Hütte ihrer Eltern, ein fremder Jüngling; schön war
seine Gestalt, bräunliche Locken wallten um die weißen Schläfe, zu denen
das männliche Braun von den Wangen noch nicht gestiegen war. Sein blaues
Auge blickte frei und edel umher, und drang in die Herzen der Mädchen.
Aura saß unter dem Rebengeländer vor der Hütte Thür, es war an einem
Maiabend, die Herde, mit der sie eben heimgekehrt war, umspielte sie noch.
Sie saß mit der weißen Spindel, indeß die kleine Medora mit den
Lämmern hüpfte, denen die Auen** oft blökend folgten, und oft
still stehend sie forschend ansahen, ob auch das Spiel des Mägdleins den
Lämmlein zu stark würde. Rinaldo kam in den letzten Strahlen der
Sonne den grünen Hügel herab, und staunte ob dem Anblick, der noch wie
keiner ihm in die Seele drang. Sein Herz war noch frei, wie konnte es
einen Augenblick ungerühret von Aura bleiben, denn Aura war
schön wie das Kind der Liebe! Unschuld umgab sie wie ein Gewand, und
Anmuth leitete ihre Schritte! Der Jüngling grüßte sie freundlich, sie sah
ihn an, und es war ihr, als gösse sich ein anders, ein neues Leben durch
ihre Adern. Sie brachte Rinaldo zu ihren Eltern in die Laube des
Gartens, und mußte erröthen, selber nicht wissend warum; die Eltern
begrüßten ihn freundlich und behielten ihn zur Nacht, und den andern Tag,
und so ferner, keiner dachte von ihnen allen ans Scheiden. -
Indeß sahen die Eltern, wie den Kindern unbewußt die Liebe in den Herzen
aufwuchs. So keimt im Garten unter Blumen versteckt das zarte
Kirschbäumchen, treibt Blätter im Stillen, dann einen Stamm, und bald
erhebt es sein Haupt mit Blüthen umkränzt über die Blumen die es gedeckt
hatte, und dann glänzt die rothe Frucht an den belaubten Zweigen! Die
Eltern liebten den Jüngling und erlaubten ihm gern Aura zu lieben.
Auch sollte nun bald das schönste Band sie umwinden, um sie unzertrennbar
durchs Leben zu vereinen.
Ach daß die Blumen, Aura, zu deinem Kranze blühten, und nur die
Liebe zögerte ihn zu winden! Die Liebe saß indeß mit verschlungnen Armen
an der Quelle, gedachte der Freuden eures Bundes, und wie sie selbst diese
Freuden, immer alt und immer neu, jeglichen Tag wie die Sonne aufgehn
ließ.
Diese genossen die Liebenden mit offnen unschuldigen Herzen, und die Tage
entschwanden ihnen wie Augenblicke unter ihren Gesprächen, und den
ländlichen Freuden, die ihnen die schöne Natur mit tausend Händen darbot.
Nie waren sie glücklicher, als wenn sie mit der Herde unter Blumen in
schönen Gegenden irrten. Von ihrer Liebe, von jetzigen und künftigen
Freuden sich unterhaltend, entstiegen dann ihrer glücklichbildenden
Phantasie süße Plane, wie den klaren Gewässern schöne blaue Libellen***
entsteigen, sich in Blumenkelche senken, die ihnen Haus und Bette,
Kleidung und Mahl sind!
Oft saßen sie am See, der ihnen aus seiner Tiefe, mit grünen Zweigen
umwebt, zu jeglicher Stunde frische Kühlung zuwehte. Die Nachtigall sang
ihnen da unaufhörlich zur Seite, und Arm in Arm geschlungen lauschten sie
der süßen Sängerin der Liebe. Oft strömte ihr Gesang in die Seele
Rinaldos, daß er, sanfter Entzückung voll, ihr und der Liebe seine
tiefen Empfindungen in melodischen Worten ausgoß.
Wie entzückst du die Seele
mit süßen harmonischen Tönen,
Daß sie erzitternd sich hebt, und hoch in die Himmel sich schwinget!
Auf den Flügeln deines Gesangs, der Erd' entsteigend,
Sieht sie nicht mehr die Blumen um sich, der webenden Zweige
Blüthen, der Seen stille Gewässer nicht, noch der Wiese
Schlängelnden Bach; der Sphären Wechselgesang ertönt ihr;
Auf der Gestirne Strahlen schwebet sie, denkt Gedanken,
Welche, der Erde zu hehr, in himmlischen Lüften verwehen.
Soll ich die Quelle des Zaubers, den du aus wirbelnder Kehle
In die Herzen uns gießest, o Philomela, enthüllen?
An den Quellen der Morgenröthe verweilte die Liebe,
Bei der Wiege des jungen Lenzes, den Augen entquollen
Thränen süßer Gefühle; da stieg zu deiner Erschaffung
Ihr in die bebende Seele der erste, leise Gedanke.
Dreimal athmete lächelnd sie, und erschuf dich. "Nimm die
Flügel der Frühe" sprach sie, "und meines Odems Stimme!"
Hauchte belebend dich an! Auf flatternden Schwingen entsankst du,
In ein Myrthengebüsch, das ihr um die Füße sich wölbte.
Und da athmetest du die süße, melodische Stimme,
Daß vom geflügelten Ton die Blüthe der Myrthen erbebte.
Lächelnd entschwebte die Lieb' auf Rosengewölken, sie blickte
Segnend dich an, und sprach: "In lieblichen Düften des Maies,
Hauche süßer Thränen Gefühl und Wonne den Menschen!"
Scheidend horchte sie noch den fernhin schmelzenden Tönen,
Die in den Westen um sie, wie Seufzer der Lieb', erstarben.
Aura hatte ihrem
Rinaldo oft von einem Bruder erzählt, der seit einem Jahre in der
Fremde war, und nun wohl bald wiederkehren würde. Ach sie wußten beide
nicht, daß, wenn sie glaubten von einem Bruder zu reden, sie sich von dem
künftigen Störer ihre Ruh und Freuden unterhielten! Rinaldo wußte
nicht, daß er ihn schon kannte, daß Auras Bruder sein Feind war. Er
hatte ihn unversöhnlich in einem Wettschießen erzürnt, wo sein Pfeil den
seinigen ereilend stürzte, als Duro schon das Ziel zu erreichen
glaubte. Das konnte der rauhe Jäger ihm nie verzeihen, so sehr sich auch
Rinaldo darum bemühte, dem es weh that, wenn er wußte daß ihm
jemand gram war.
Eines Mittags, als sie wieder mit der Herde heimkehrten, fanden sie die
Mutter emsig beschäftigt die Hütte zu schmücken, wie zu einem Feste; auch
glühten ihre Wangen vom Feuer des Herdes, auf dem sie die Beute der Jagd
bereitete. "Was hast du o Mutter?" fragten eilig die Kommenden. "Ei ihr
werdet es wohl erfahren, ich darf es euch nicht verrathen. Komm indeß,
Aura, und hilf die Kräuter zum Salat mir lesen. Die würzigsten suche,
und dann kühle und reinige sie im Bache." Aura eilte und kam bald
mit den glänzenden Kräutern wieder heim, und stellte sie im schönen,
runden Gefäß auf den weißen Tisch. Da trat in die Thüre der Vater, mit ihm
der Sohn, Auras Bruder. - Sie eilten sich entgegen, und schon
umschlang mit Bruderliebe sein Arm sie, als er Rinaldo erblickend,
auf einmal zurückfuhr. Dieser erstarrte, als er seine Braut an der Brust
seines Feindes sah. "Ist das der Jüngling, Vater? Nimmer werd' er mein
Bruder!" rief er voll Zorn, und wandte sich plötzlich von Aura, die
vom schnellen Uebergang der Freude zum Schrecken überwältigt, ohnmächtig
hinsank! Ihr Bruder war ihr ein Räthsel, ach aber das Räthsel lös'te sich
bald! und sie erfuhr, was sie nie geglaubt hätte, daß Duros Herz
hart wie sein Name sei. Die Eltern, welche Rinaldo liebten, und
wußten, wie Auras Seele an ihm hing, versuchten alles, ihn mit dem
edlen Jüngling zu versöhnen; aber nichts rührte den Eisernen! er verhärtete
sogar sein Herz beim Anblick ehmals so geliebten Schwester, die von innerm
Grame bleich, oft in stummen Thränen vor ihm zerfloß. So beugt die zarte
Lilie ihr Haupt, wenn die Mittagssonne in starker Glut ihre Strahlen wie
Pfeile auf sie herab schießt. Die glänzenden Tropfen des Morgenthaus hat
sie verzehret, nun saugt sie an der Wurzel und trocknet die schönsten
Säfte aus, die so lieblichen Duft um sich verbreiteten! Wird kein
mitleidiges Wölkchen dich schirmen vor der brennenden Glut, und wird kein
Abendlüftchen dich bald anhauchen, - daß der milde Schleier der Nacht dich
umwalle, und auf dem sanfteren Strahl des Mondes dir Erquickung
zuschweben?
Duro verfolgte sie mit scharfen Reden. Die gingen Rinaldo
durchs Herz, denn er sahe, wie sie gleich einem versengenden Mehlthau, die
Rosen auf den Wangen seines Mädchens bleichten. Er entschloß sich, sein
liebendes Herz zu besiegen, dem süßen Anblick und dem himmlischen Umgang
mit seiner über alles geliebten Aura zu entsagen. Lange trug er
diesen bittern Vorsatz mit sich umher, eh' er ihn ihr entdecken konnte.
Wie ihm aber eines Abends die Wehmuth und der zurückgehaltene Zorn wider
Duro zu mächtig ward, brach er sein trauriges Schweigen. Er war
allein mit Aura, an einem ihrer Lieblingsplätze. Dieß war ein Hügel
am Bach, den hohe Buchen umkränzten; in ihrer Mitte stand eine Birke, die
mit sanftem Lispel, wenn dichtere Zweige schwiegen, ihnen unnennbare
Empfindungen zusäuselte. Der Mond bebte durchs grüne Laub, und Rinaldo
küßte sein blasses Bild oft in der stillen Thräne an Auras Wimpern
auf. "Du sollst nicht länger um mich leiden," sagte er; "ich will den
Wünschen deines Bruders zuvoreilen, und seinen Blicken einen Feind
entziehen, dessen Gegenwart sein Herz nur noch mehr verhärtet. Dann aber,
hoff' ich, wird es schmelzen, wie das Eis am Felsen, wenn der Winter das
Thal verläßt, und dich wird wenigstens die Ruhe wieder segnen." Aura
sank an sein Herz, die Rede Rinaldos drang wie ein Schwert durch
ihre Seele, und dennoch durfte sie nichts dagegen antworten. Mit ihm zu
fliehen hatte ihr kindliches Herz ihm versagt; wie hätte sie ihre Mutter
in solche Tiefen der Angst stürzen können? Ach aber wie tödtend war der
Gedanke, ohne Rinaldo zu leben! - Das wäre ja kein Leben, nur
Schatten des Daseins, leer und gedankenlos! öde wie finstre Nächte! "Einst
werden uns ja wieder frohe Tage lächeln, daß ich wiederkehre, um ewig
ungetrennt von dir zu sein! Das darf ich von der Reinheit unsrer Liebe
hoffen, auf die Gott gewiß mit Wohlgefallen herab schaut. Laß mich denn
gehn, vom stolzen ruhigen Gedanken begleitet, daß ich dir deine Eltern und
deinen Bruder versöhne, der soll mein Kissen des Nachts sein, und eine
Stütze auf harten Wegen." So tröstete und stärkte der Edle seine Geliebte,
und schweigte die Stimme seines klopfenden Herzens, das laut wider seine
Rede empor schlug.
Lange saßen sie schweigend im Schimmer des Mondes, und ließen die trüben
Gedanken mit den Wellen des Bachs wallen, auf den ihre starren Blicke sich
senkten. "So soll ich denn den dunkeln Pfad meines Lebens allein wandeln,
ungestützt vom warmen Arm der Liebe? So mögen denn meine Schritte wanken,
daß ich bald sinke ins kalte Grab, wo die Ruhe mir mein Bette bereitet!
die Liebe hat ihre Kammer vor mir verschlossen, ihr Lager nimmt mich nie
auf; o daß uns denn der Ewigkeit Morgen bald aufginge, und wir der seligen
Dämmerung entgegenschwebten, die uns jenseit dieses dunkeln Thales winket!
Dort wütet kein Haß noch Trennung, nur Liebe und Unschuld wallen allda
unter himmlischen Blüthen!" Athemlos umschlang so Aura ihren
Rinaldo; mit heißen Seufzern segneten sie sich einander zur Trennung
ein. Engel schwebten auf des Mondes Strahlen zu ihnen herab, voll
himmlischer Wehmuth glänzte ihr Blick auf die Liebenden, und goß Stärkung
in ihre Seelen, die sonst gesunken wären unter der Last der nahen
Trennung!
In der Nacht verließ Rinaldo die Hütte. Die Seele Auras
begleitet ihn. Ihr tiefsinniger Blick, der unbeweglich vor ihren Schritten
starrte, verrieth den Eltern die Trennung bald, und sie sahen, daß sie nur
die Hülle ihres Kindes behalten hätten, daß ihr Geist dem gefolgt war, an
den unauflösliche Liebe sie band. Duro war weniger hart, doch
schien es Aura nicht zu bemerken; sie entzog sich, so oft sie
konnte, ihrer aller Blicken, und täglich eilte sie zum geliebten Hügel,
auf dem sie ihren Rinaldo die letzten Küsse gegeben hatte, wo ihr noch die
Worte seiner Liebe wie ein lindes Säuseln ertönten. Sie saß dann wie
lauschend, und sann an die Tage der Freuden, die da kommen sollten, deren
fernstes Dämmern sie noch nicht erblickte. Langsam und trübes Blickes ging
sie dann den Hügel herab. So wallt ein einsames Wölkchen am Mond vorüber,
wenn die Sommernacht Stille und Kühlung auf den glänzenden Flügeln des
Thaues der Erde zusendet; der leichte Schatten schwebt über die blumigen
Wiesen, wie eine Schaar tanzender Mücken über spiegelnde Teiche, wenn ein
scherzender West mit schalkhaftem Odem sie vor sich her treibt, daß sie
vor ihm sich im Schilfe verbergen.
Rinaldo ging indeß mit schwerem Herzen, selber nicht wissend wohin.
Das Bewußtsein der edlen Selbsverläugnung ging ihm aber zur Seite, und
umgab ihn wie ein starker Schild. Der Gedanke an Auras Frieden
füllte seine Seele, noch mehr der, daß er gewiß in ihrem treuen Herzen
lebe und ewig leben werde. Die Stimme der Hoffnung sang ihm auch
unaufhörlich im Herzen, und voll süßer Wehmuth lauschte er ihren Gesängen,
die ihn in süße Träume wiegten, und in die lächelnden Gefilde der Zukunft
hinzauberten, in denen Aura vor ihm schwebte, und den vereinten
Pfad ihres Lebens mit immer frischen Blumen bestreute. Von einer Freude
zur andern eilte mit ihr sein Geist, wie die emsige Biene von
Lindenblüthen zu Rosen schwebt, und immer die Lippen nur mit dem obersten
duftigsten Thau netzet. - Sinnend ging er lange durch Thäler und felsige
Gebirge, bis er einen Strom entlang zu einem schmalen Fußsteg kam, der ihn
durch blühende Büsche zu einer kleinen Hütte führte.
Hier nahm ein freundlicher Greis ihn auf, der dort in friedlicher
Einsamkeit lebte. Seine Hütte lag in der schönsten Einöde; dicht an ihr
grenzte ein Buchenwald, den der Felsenstrom durchbraus'te, daß man in der
Hütte sein Sausen hörte, wie die Stimme der Tannenwipfel, wo ihr Wald am
dichtesten ist. Vor der Hütte hatte der Greis schöne duftende Gesträuche
gepflanzt, die abwechselnd immer in Blüthen prangten. Die Felsen, aus
welchen der Strom stürzte, bildeten tiefe Höhlen, in denen man die
Regenbogen der Wasserfläche bei untergehender Sonne mit tausend Farben
spielen sah.
Viele Tage lebte Rinaldo hier, denn der Greis gewann ihn so lieb,
daß er ihn nie scheiden ließ, und ihn von einem Tag zum andern aufhielt.
Auch liebt ihn der Jüngling wie seinen Vater, und er horchte mit Entzücken
der Stimme seiner milden Weisheit, die wie Honig vom Felsen, von seiner
Lippe floß.
Alle Morgen bestieg Rinaldo den Felsen, der zunächst an der Hütte
steil empor ragte; seine Spitze umschlangen Weinranken und Geißblatt in
Blumenketten, die vom Frühthau schimmerten. Auf dem höchsten Gipfel des
Felsen erwartete er den herrlichen Aufgang der Sonne, mit ihm die
erwachenden Vögel, die nur leise noch um ihn zwitscherten, beim
feierlichen stillen Morgenroth, das in Osten heraufwallte, und noch in
erquickendem Thau auf die ruhende Natur herabschauerte. So feierlich ist
die erste Stunde des frommen Dulders nach dem letzten Schlummer, wenn sein
Blick, in sanfte Dämmerung erst, dann in Morgenröthe gehüllt, der alles
belebenden Sonne der großen Ewigkeit entgegen staunt. Jetzt stieg sie
herauf! erst zitternd, dann strahlend, und nun erweckt sie die ganze
Natur, die ihr wonnevoll in Millionen Harmonien entgegen jauchzt! Entzückt
stand Rinaldo und schaute umher; seine ersten Blicke sanken dann
ins Thal, wo die Hütte seines Mädchens ruhte, und in Liebe versunken,
dachte er nur sie, die ihm wie die Sonne durch die ganze Natur in die
Seele schimmerte.
Einst als er später wie gewöhnlich seine Wallfahrt zum geliebten Felsen
antrat, (er hatte dem Greise geholfen die Reben der Laube zu binden) fand
er, da er hinauf kam, schon die Sonne im vollen Glanz hervorgehn. Er
setzte sich auf einer hervorragenden Klippe, die über das nächste Thal
hing; dieß war wie eine enge rauhe Felskluft, durch die der Strom unten
sich schäumend drängte: schroffe Felsspitzen stiegen an ihm auf und ab.
Rinaldos Blicke sanken in diese schauerliche Tiefe, die ihn in die
unendlichen Tiefen der Gedanken hinabriß, die oft in den Seelen der
Liebenden sich dunklere Höhlen bilden, als die reißenden Felsenströme.
Als er so sinnend da saß, ward er auf einmal staunend gewahr, daß ihm eine
menschliche Stimme in Seufzern ertönte. Er lauschte, und als sie ihm immer
vernehmlicher ward, sprang er auf, und eilte dem Laute nach. Er stieg
etliche Klippen hinab, ohne jemand zu erblicken. Da rief er. Eine dumpfe
Antwort erscholl ihm; sie kam aus der Tiefe und flehte um Hülfe. - Er
schrie ihr zu, daß er käme, und in kühnen Sprüngen, wo er immer der Gefahr
wie eine Gemse entschlüpfte, war er bald unten, von wannen ihm die Stimme
herauf getönt hatte. Da fand er endlich einen jungen Mann ohnmächtig, sein
Gesicht war von Blut entstellt, das strömend aus den Wunden der Stirne
floß. Er eilte, ihn mit Wasser vom Strome zu erfrischen, und rief die fast
entflohene Seele wieder zurück. Dieser schlug die Augen auf; aber sein
Blick, der auf seinen Retter fiel, den er für einen Engel vom Himmel
gehalten hatte, zitterte erschrocken zurück. Er erkannte Rinaldo.
Duro war der verwundete Mann, den fast die Felsen zerschmettert
hatten, als er, eine Gemse in unbesonnener blinder Jagdlust verfolgend,
von ihnen herabgestürzt war. Manche spitze Klippe hatte ihm verrätherisch
den Arm geboten, um ihn nur tieferen und schärferen zuzusenden, bis er
endlich auf einem breiteren Stein, mit kleinen Gesträuchen und moosichten
Gewächsen bedeckt, liegen geblieben war.
Hier fand ihn der gute Rinaldo, erkannte aber sein von Wunden
bedecktes Antlitz nicht, und er pflegte und wusch ihn brüderlich. Duro
seufzte und sagte: "Ich denke, du kennst mich wohl nicht?" - Die Stimme
fuhr Rinaldo durchs Herz, und sie stieß an und zitterte von den Saiten
seiner Seele zurück. So erschüttert ein rauher Hauch des Windes zuerst die
zarten Saiten der äolischen Harfe, bis er wie ein sanfter West, in die
letzten feinsten hinüberschmilzt und in Harmonikas Tönen erklingt. Duro
war verwundet, und bedurfte seiner Hülfe, das war genug, um alle Gefahren
für ihn zu wagen; er war Auras Bruder, wie gern hätte er sein Leben
für ihn gegeben! Auch hatte er ihn nie gehaßt, und immer gesehen, daß ihn
nur leidenschaftliche Aufwallungen wider ihn eingenommen hatten, welche zu
bekämpfen sein Herz zu stolz und zu schwach war.
Rinaldo bog sich mit freundlichen Blicken über ihn, und Duro
sahe beschämt, welch ein edler Jüngling sein Feind war. Er suchte erst
alles zusammen, um ihn auf die bequemste Art für seine Wunden
fortzutragen; dann lud er ihn sanft auf seine Schultern, und ging den
Strom entlang, dessen Ausfluß er kannte.
Der Weg zur Hütte war lang und eng und felsig; er suchte oft einen
moosigen Stein, auf dem er den Leidenden ausruhen ließ, bis er in etlichen
Stunden mit ihm zur Hütte des Greises kam. Dieser legte dem ermatteten
Duro heilsame Kräuter auf die Wunden, und stärkte ihn mit
erfrischender Milch, Früchten und Wein. So pflegten beide den Kranken mit
treuer Sorgfalt, welche bald die Genesung herbeirief. Duro hatte
seinen alten Groll vergessen und sich herzlich mit Rinaldo
ausgesöhnt. Er war edel genug ihm zu gestehen, daß er sich sein selbst
schäme, und seiner Verzeihung nicht werth sei.
Rinaldo war indeß selig, als umschlängen ihn schon die Arme seines
Mädchens, froh wie die steigende Lerche, wenn sie im blauen Aether die
leichten Schwingen badet und die freudige Seele in tausend melodischen
Tönen ausgießt! Wie ein Gems eilte er seinen Felsen hinauf; es war ihm
immer, als sei er da seiner Geliebten näher, und sein Geist schwebte auf
den Flügeln der Sehnsucht und der Liebe vom Felsen zu ihr ins Thal. Dieß
Lied sang er da leise den ersten Morgen, nachdem er Duro gerettet
hatte, und die Hoffnung ihm mit Morgenschimmern, die um ihn die Felsen
rötheten, ins Herz drang.
Auf jungem Strahle der Frühe
Schwebe mein Liebesgruß!
Dringe durch neidische Schleier,
Lagr' auf die Rosenlippe sich,
Und entküss' ihr die Träume,
Ach die Träume von mir!
In denen ich Seliger lebe,
Den sie in Seufzern nun nennt!
Lispl' im süßen Schlummer
Zum Ohr ihr hinauf!
Nenn' ihr meinen Namen,
Hauch' in Nachtigalltönen Ruh ihr ins Herz!
Wenn sie beim sanften Erwachen
Mein dann gedenkt,
Und mit schmachtender Seele
Nach entfliehenden Träumen noch hascht;
Dann entlocke der Hütte sie,
Wie die Nachtigall
Den Geliebten dem Busch entlockt,
Daß er das Nestlein auch decke.
Staunend blicket dann Aura
In die beglänzte Natur,
Deren Fülle ihr Liebe haucht,
Denn meine Seele schwebet um sie!
In der Vögel Gezwitscher,
In dem Säuseln der Blüthen,
Im Gelispel des Baches,
Tön' ihr mein Liebesgruß!
Sing' ihr von nahenden Freuden,
Von den Knospen der Liebe,
Von dem Schimmer der Hoffnung,
Der hell auf dem Pfade zur Wiederkehr strahlt!
Mit zitternder Ungeduld
wünschte er dem Augenblick Flügel, der ihn, an der Hand ihres, nun auch
seines Bruders, zu ihr führen sollte. In tausend Bildern erschien ihm da
das liebliche Mädchen; das erste Wallen der Freude umgab sie wie ein
glänzender Schleier!
Duro war nun geheilt, und durfte jetzt den Weg zur Hütte wagen;
früher hatte es ihm der weise Greis nicht erlaubt, so sehr Dankbarkeit
auch den Jüngling antrieb, daß er, seiner Schmerzen uneingedenk, jeden
neuen Tag mit Rinaldo eilen wollte. Der Greis begleitete sie, um die
schöne Braut seines geliebten Rinaldos zu sehen, und sie zu segnen.
Mit der ersten Frühe gingen sie aus, und kamen, wie Aura eben mit
der Herde zu Mittag heimkehrte.
Medora hüpfte ihr entgegen, und zog sie mit kindlicher Gewalt zur
Hüttenthür; dann sah sie nach den Lämmern sich um, und rief auf einmal:
"Sieh da! drei Männer kommen den Hügel herab; wer sind sie, o Aura?"
- Aura sah hin, erkannte den Bruder - Rinaldo - und sank -
doch auf der Liebe Flügel eilte er, und die Arme des Geliebten hielten die
Sinkende!
Sprache! Armseliges Kleid, in das die Empfindung der liebenden Seele sich
hüllen soll, wie sind deine Worte so schwach! - Wie könnten sie fassen,
was in den Blicken, in der Seele Auras kämpfte! - Ihr Bruder stand
gerührt über sie gebeugt, auf den Stab gestützt. Die Eltern eilten herbei,
staunten und schwiegen, aber ihre Blicke forschten im Kreise umher; der
Greis verstand und beantwortete sie. Da ergoß in segnenden Worten sich ihr
beklommnes Herz, und sie umarmten den Retter ihres Sohnes mit dankbaren Thränen.
Aura konnte nicht reden, aber ihr Auge sagte dem seligen Rinaldo
die unnennbaren Gefühle ihrer Seele, und er schwamm im Meer der Wonne, an
ihrem klopfenden Herzen.
Unter den Thränen hervor
Erhebe dein Haupt!
Ros' erhebe dein Haupt!
Der Gewitter Donner entrollen,
Verhallen in der Gebirge Höhlen!
Sieh' ich komme, die Freude kommt!
Auf Farben des Friedensbogens
Schwebet mein Fuß!
Sie bestrahlen die Thränen
Der matten Wimper!
Ich entküsse sie leise,
Blühe nun schöner auf!
Blicke lächelnd mich an!
Sieh' ich hebe den Schleier dir auf,
Den hüllenden Schleier der Zukunft.
Die Liebe kommt!
Die hohe himmlische Liebe!
Ihren Händen entwallen
Blumen-Kränze,
Dein sind sie, o Aura!
Ewig blühend umschlingen sie euch,
Wir netzen sie beide
Mit erquickendem Himmelsthau!
Daß sie duftender glänzen,
Immer schöner euch blühn!
In den Armen der Liebe
Ruhst du! Auf frühem Strahle
Küss' ich zu neuer Wonne,
In den Armen der Liebe,
Jeden Morgen dich wach!
* Sonnenküchlein. Vielleicht ein Provinzialwort. In andern Gegenden
Deutschlands nennt man den lebhaften kleinen rothen Käfer mit schwarzen
Flecken, welcher sich oft schon im März zeigt, Herrgottsvögelchen.
** Aue. Abermals ein Provinzialwort, aber ein Westphälisches. Wie kommt
Psyche dazu? Aue, ein Mutterschaft. Englisch Ewe. Ich sehe nicht,
wie wir des Wortes Aue in diesem Sinne entbehren könnten. Sehr poetisch
wird es statt Wiese gebraucht, wo es doch entbehrlicher wäre.
*** Libelle. Unter den Namen Wassernymphe, Jungfer, ist dieses schöne
Insekt wohl den meisten bekannt. Aber wenige wissen vielleicht, warum es
an schönen Sommertagen so gern über Gewässern flattert, und alle
Augenblicke den untern Theil des Leibes ins Wasser taucht. Dann legt es
seine Eier. Aus diesen Eiern kriecht ein gefräßiges kleines
Wasserthierchen. Wenn dieses die Hälfte seiner künftigen Größe erreicht
hat, bekommt es Flügelhüllen. Vollkommen erwachsen, kreucht es aus dem
Wasser, hängt sich an Gras oder Gesträuch, und verwandelt sich in ein
schönes schlankes Insekt mit vier Flügeln. Herder hat dieses liebliche
Thierchen sehr lieblich in diesem Liede besungen:
Die Wassernymphe
Flattre, flattr' um deine Quelle,
Kleine, farbige Libelle,
Zarter Faden, zartbeschwingt!
Fleug auf deinen hellen Flügeln,
Auf der Sonne blauen Spiegeln,
Bis dein Flug auch niedersinkt.
Deine längsten Lebenstage,
Fern von Freude, fern von Plage,
Hast du, Gute, schon gelebt;
Als dich Wellen noch umflossen,
Als dich Hüllen noch umschlossen,
Waren sie dir leicht gewebt.
Jetzt, nach deinem Nymphenleben,
Darfst du als Silphide schweben,
Wie weit dich der Zephis trug;
Und du eilst, mit muntern Kräften,
Nur zu fröhlichen Geschäften,
Deine Liebe selbst ist Flug.
Flattre, flattr' um deine Quelle,
Kleine, sterbliche Libelle,
Um dein Grab und Vaterland;
Eben in dem frohsten Stande,
Fleugst du an des Lebens Rande;
Ist das meine mehr als Rand?
Einst, wie dir, wird deinen Kleinen
Auch die Sommersonne scheinen,
Gieb der Quelle sie als Zoll,
Und erstirb; die matten Glieder,
Seh' ich, welken dir danieder;
Schöne Nymphe, lebe wohl!
Aus: Die Insel von Friedrich Leopold Graf zu Stolberg
Leipzig 1788 (Kapitel: Aura. Eine Erzählung von Psyche) (S. 210-236)
_____
Biographie:
Auszüge aus: Friedrich Leopolds Grafen zu Stolberg erste Gattin Agnes geb.
von Witzleben
Ein Lebensbild aus der Zeit der Empfindsamkeit
Von Otto Hellinghaus [1853-1935]
Köln 1919
Henriette Eleonore Agnes von Witzleben war geboren am 9. Oktober 1761 auf
den Rittergute Hude, welches aus den Besitzungen eines ehemaligen
Zisterzienserklosters entstanden und in der damaligen Grafschaft
Delmenhorst und dem jetzigen gleichnamigen Oldenburger Amte, zweieinhalb
Stunden nordwestlich von der Stadt Delmenhorst, gelegen ist.
Ihre Eltern waren der einem altadeligen thüringischen Geschlecht
entsprossene frühere dänische Leutnant Adam Lewin der Jüngere von
Witzleben (1721-1766) auf Hude und Elmeloh und seine Gemahlin Karoline
(1727-1774), die ihm am 31. Mai 1748 angetraute Tochter des preußischen
Geheimrats Friedrich Christian von Sobbe (1678-1743), die von so
engelhafter Schönheit war, daß ihre Schwiegermutter bei ihrem ersten
Anblicke zu ihrem etwas leichtlebigen Sohne gesagt haben soll: "Adam, von
welchem Altare hast du diese Heilige geraubt?"
In der romantischen Waldeinsamkeit Hudes, unter den das Elternhaus
umkränzenden hundertjährigen, mächtigen Linden und zwischen den
efeuumrankten, ehrwürdigen Ruinen des Klosters, die auch heute noch eine
malerische Zier des schönen Schloßparkes bilden, hatte sie mit zehn
Geschwistern, darunter fünf Brüdern, eine glückliche Kindheit verlebt und
eine sorgfältige Erziehung erhalten. Sie kannte die bedeutenderen
damaligen deutschen Dichter und beherrschte die französische Sprache, wozu
später noch das Englische und Italienische kamen. Wie ihre Eltern,
besonders ihre Mutter, und sämtliche Geschwister war sie sehr musikalisch.
Sie spielte Klavier, und ihre liebliche Stimme entzückte durch den
seelenvollen Vortrag volkstümlicher Lieder. Zur Sicherung ihrer Zukunft
war sie schon in ihrem sechsten Lebensjahr, am 13. April 1767, als
Stiftsfräulein in das adeligen Damenstift Wemmentoff auf Seeland
eingeschrieben worden, dem bereits drei Schwestern ihres Vaters als
Stiftsdamen angehörten. Nachdem am 8. Juli 1766 nach nur dreitägiger
Krankheit ihr Vater und am 4. Juli 1774 nach längerem Leiden ihre Mutter
gestorben waren, hatte ihre Tante und Patin, die Oberhofmeisterin Eleonore
Marie von Witzleben (1724-1812), sie nicht lange nach der Konfirmation zu
sich nach Eutin genommen. Hier war sie schon bald Hofdame und, da der
Mutter holder Liebreiz auf sie schon bald übergegangen war, des Hofes
Liebling geworden.
(...)
[Friedrich Leopold Graf zu Stolberg und Agnes von Witzleben begegnen sich
zum ersten Mal am 2. Mai 1781.]
Anfangs war "die kleine Witzleben etwas embarassiert, blöde, beinahe
scheu, aber doch, wenn sie nicht Augen fürchtete, sehr freundlich und
gut", und wie er [Friedrich Leopold Stolberg] selbst noch Anfang September
schwankte, ob er "den Rubikon passieren" sollte, so scheint auch sie,
nachdem er sich entschlossen hatte, zunächst noch Bedenken gehabt zu
haben: sie war eben ohne Vermögen, und er selbst hatte bei seinen sehr
bescheidenen und zudem unsicheren persönlichen Einkünften und seinem
Gesandtengehalt von nur 3000 Talern infolge des Aufwandes, den sein Amt in
Kopenhagen gefordert hatte, sogar Schulden machen müssen. "Sie war sehr
freundlich", schreibt er am 21. Oktober an seinen Bruder, "und sagte mir
mit Rührung: 'Was ich wünsche, das hoffe ich auch, aber ich kann Ihnen
nicht mehr sagen, noch nicht.' Es ist aber doch viel gesagt," meint er,
"wenn ein Mädchen das sagt."
In der Tat siegte bald die Liebe über alle Bedenken. Anfang November
erhielt er ihr Jawort. Zunächst erfuhren es nur die nächsten Verwandten
und Freunde, und nicht genug weiß er ihnen sein Glück zu schildern, seine
Braut zu preisen.
"Ein hübsches Mädchen mit schönen Augen und schöner Seele ist meine
Braut", schreibt er an seinen Freund Haugwitz. "Sie ist unschuldig und
froh wie ein Kind, ernst und fromm wie eine Matrone, aber nur dann ernst,
wenn die Lieblingssaiten ihrer Seele gerührt werden. Jedes Vögelchen
zwitschert, jedes Blümchen duftet ihr ans Herz, und für allen Flitter ist
sie fühllos. Idol eines Hofes, an welchem nur sie Effekt machte, hat sie
ihre ganze Einfalt, Naivetät, Freude und Unschuld rein erhalten. Ihr
Verstand ist schnell und richtig, nicht brillant; ihr Geschmack hat die
Feinheit des Witzes und die Sicherheit des Instinktes. Empfindung spielt
immer in den Zügen ihres Gesichtes wie der Wind in den Saiten einer
Äolsharfe, und oft entstürzt ihr schnell eine Träne, ehe das Lächeln der
Freude aus den Grübchen ihrer Wangen entflohen ist. Sie liebt mich, wie du
wünschest, daß mich ein Weib lieben möge, also mehr, weit mehr, denn ich
verdiene."
(...)
Seinem Freund und Göttinger Haingenossen Johann Heinrich Voß (1751-1826),
der seit Herbst 1778 Rektor der Lateinschule in Otterndorf im Lande Hadeln
war, schreibt er am 27. Dezember: "Ihr Wuchs ist schön, ihr Gesichtchen
allerliebst, ihr Haar golden, ihre Augen groß, und sanft und liebevoll ihr
Blick, ihr Herz rein und edel und liebend und sanft. Ihr Verstand ist sehr
schnell und sehr sicher und sehr fein, läßt sich aber doch immer von der
warmen und weichen Hand ihrer Empfindung leiten. O Voß, unter viel
Millionen Mädchen sähen Sie ihr gleich an, daß es ein deutsches Mädel ist,
und unter allen deutschen Mädels hätte ich sie ausgesucht ... Immer auf
dem Land erzogen, ist sie ein Kind und Säugling der Natur, und man sieht
ihr den Teelöffel der Kunst und des Hofdamenstandes wahrlich nicht an."
(...)
Wenn auch offenbar bei jenen Schilderungen die Liebe den Griffel geführt
hat, so hat Stolberg doch das Wesen seiner Braut richtig gezeichnet. Das
bestätigen nicht nur die Zeugnisse aller, die sie gekannt haben, sondern
auch ihre eigenen Briefe und Gedichte. "Freundlich und hold und schön wie
ein Engel", sagt der sonst so trockene Voß, "barg sie wie ein Engel
himmlischen Ernst unter spielender Kindlichkeit. Agnes, die über Gott und
aufstrebenden Menschengeist in stillem Gespräche sann und die hellen Augen
erhub: sie konnte die fröhlichste, die schalkhafteste Hirtin sein in allen
Launen des Mutwillens, sie konnte das Störende wegscherzen mit solcher
Anmut, daß man sich belohnt dünkte." Goethe, der sich "in ihren blühenden,
schönsten Jahren [1784] an ihrer anmutigsten Gegenwart erfreut" hat,
glaubte in der "Göttlichen" einen "Engel Grazioso" Calderons zu erblicken.
(...)
Am Dienstag den 11. Juni 1782, abends 6½ Uhr, fand die feierliche
Vermählung statt und zwar zu Ehren des Paares in dem fürstbischöflichen
Schlosse zu Eutin, unter Teilnahme der Fürstlichkeiten und des Hofes. Die
Braut hätte eine schlichte Trauung im Familienkreise vorgezogen, da ihr
die "Hof-Alfanzereien" immer mehr "eklig und widerstehend" wurden. Zum
Vorspruch seiner Trauungsrede nahm der Geistliche auf ihren Wunsch das 13.
Kapitel (von der Liebe) aus dem ersten Briefe des Apostels Paulus an die
Korinther, woran sie sich später gern erinnerte.
(...)
[Die Hochzeitsreise nach Tremsbüttel, Ahrensburg, Hamburg, Wandsbeck.
27. Juni 1782 Rückkehr nach Eutin.
30. Juli 1783 Geburt des ersten Sohnes Christian Ernst.
19. Mai 1784 Reise über den Harz, Wernigerode, Stolberg und Weimar zur Kur
nach Karlsbad. In Weimar Zusammentreffen mit dem Herzogspaare, Herder,
Wieland und Goethe.
Am 7. Juni Ankunft in Karlsbad.
Mitte August Reise von Teplitz über Dresden zurück nach Tremsbüttel.
Mitte November 1785 Reise nach Kopenhagen und Aufenthalt dort.
4. Mai 1785 Geburt der Tochter Maria Karoline Agnes.
Ende Juli 1785 Rückkehr nach Tremsbüttel.
24. August 1785 über Hude, Elmeloh, Oldenburg nach Neuenburg.
6. November 1786 Geburt des Sohnes Andreas Otto Henning.
20. Februar 1788 Geburt der Tochter Henriette Luise Juliane.
15. November 1788 stirbt Agnes Gräfin zu Stolberg.]
(...)
Werfen wir nunmehr einen kurzen Rückblick auf ihr gesamtes dichterisches
Schaffen, abgesehen von ihrer schon besprochenen Erzählung [siehe weiter
unten], so kennen wir von ihr im ganzen acht Gedichte, von denen drei zur
"Aura" gehören. Die meisten sind ihr "angeflogen", wie sie selbst von
einem sagt: es sind wirkliche Eingebungen der Muse, nicht etwa nur
Erzeugnisse nachahmenden Fleißes. Mit vollem Rechte rechnet Weinhold [Karl
Weinhold: Gräfin Agnes zu Stolberg. Von ihr und über sie. 1878] sie mit
Lotte Schiller und Ernestine Voß zu jenen weiblichen Gestalten unserer
Geistesgeschichte, die ihrer Männer Leben nicht nur wärmten und
erleuchteten, sondern an dieser Flamme auch ein eigenes poetisches Licht
entzündeten. Indessen möchte ich ihr doch ein ursprünglicheres
dichterisches Talent zuschreiben als den beiden anderen Frauen. Wäre ihr
Leben und damit ihr Schaffen nicht so früh erloschen, so würde sie jene
zweifellos überragt haben. So aber ist sie über die ersten Versuche leider
nicht hinausgekommen. Angeregt wurde sie zu ihnen zweifellos durch das
dichterische Schaffen ihres geliebten Gatten. An poetischen Ruhm dachte
sie dabei ebensowenig wie die beiden anderen Frauen. Kein Gedicht hat sie
zu Lebzeiten mit ihrem Namen veröffentlichen lassen, vielmehr war sie
eifrig bemüht, ihre Urheberschaft zu verbergen. Daß sie die Verfasserin
der "Aura" mit ihren drei Gedichten ist, scheint selbst Voß anfangs
verschwiegen worden zu sein; wenigstens ist achtmal in Stolbergs Briefen
an ihn von der "Insel" die Rede, ohne daß sie auch nur einmal genannt
würde. Es genügte ihr völlig die eigene kindliche Freude, auch einmal von
der Muse "auf flüchtige Augenblicke berührt" zu sein, und der Beifall der
Ihrigen. Natürlich haben die Dichtungen ihres Gatten ihre eigenen nach
Inhalt und Form stark beeinflußt. In der Anwendung des Hexameters und
freierer Rhythmen und selbst in der Gleichgültigkeit gegen die Gesetze der
Metrik folgt sie seinem Beispiele. Zugleich finden sich aber auch Anklänge
an ihren so bewunderten Lieblingsdichter Klopstock, an Hölty, Voß und
Geßner.
Ihrem Talente war es, wie gesagt, nicht vergönnt, zur Entwicklung und
Reife zu gelangen, vielmehr haben wir es nur mit Erstlingsversuchen zu
tun, deren künstlerischer Wert nicht hoch ist. Um so wertvoller aber sind
sie als treuer Spiegel ihres kindlich anmutigen Wesens, ihres
frommgläubigen, unschuldvollen, naturliebenden, zärtlichen Herzens, ihrer
wahrhaft schönen Seele.
(...)
[Zu der Erzählung "Aura":]
Hinter dem Decknamen Psyche verbirgt sich wieder Agnes Stolberg.
Zugleich wird die Erzählung damit ihrem Ebenbilde, der ebenfalls Psyche
heißenden Gattin Sophrons, in den Mund gelegt.
"Aura" ist eine Idylle in Prosaform. Handlung und Charaktere sind von
größter Einfachheit. Der schöne, edle Rinaldo und die holde, empfindsame
Aura lieben sich. Ihr Bruder Duro aber, dessen Name seiner Sinnesart
entspricht, haßt Rinaldo, weil er einst bei einem Wettschießen von ihm
besiegt wurde. Da er sein Herz nun auch gegen seine Schwester verhärtet
und sie dadurch unglücklich macht, so beschließt der hochherzige Rinaldo,
sie vorläufig zu verlassen, in der Hoffnung, daß in seiner Abwesenheit
Duros Herz allmählich "schmelzen" werde. Nach schmerzlichem Abschiede von
der Geliebten begibt er sich in die einsame Hütte eines ehrwürdigen,
frommen Einsiedlers, der ihn liebevoll aufnimmt und mit milder Weisheit
tröstet. Da stürzt eines Tages Duro bei der Verfolgung einer Gemse von der
Klippe eines der Hütte benachbarten Felsens herab, von dem Rinaldo jeden
Morgen bei Sonnenaufgang das Tal seiner Aura zu begrüßen pflegt. Dieser
findet den Schwerverletzten und rette ihn. Sein Edelmut erweicht Duros
Herz, und aus den Liebenden wird ein glückliches Paar.
Drei Gedichte sind in die Erzählung verwebt: ein Gesang in Hexametern, in
dem Rinaldo, "süßer Entzückung voll", die Nachtigall als die "süße
Sängerin der Liebe" verherrlicht, ein Liebesgruß, den er am Morgen nach
Duros Rettung hoffnungsvoll an Aura sendet, und, die Erzählung
abschließend, ein Lied der Freude und Liebe.
Vorbilder für "Aura" waren offenbar die vorangehenden Idyllen Stolbergs
und die damals bei allen empfindsamen Seelen so beliebten Idyllen Salomon
Geßners (1730-1788). Anklänge finden sich auch an Martin Millers
tränenreichen "Siegwart", der ja ebenfalls zur Lieblingslektüre jener
rührseligen Zeit gehörte. Zu rühmen sind die anmutige dichterische
Sprache, wie wir sie auch in den Briefen der Gräfin finden, und die
Schönheit der Naturschilderungen.
aus: Friedrich Leopolds Grafen zu Stolberg erste Gattin Agnes geb. von
Witzleben
Ein Lebensbild aus der Zeit der Empfindsamkeit
Von Otto Hellinghaus
Köln 1919
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Stolberg Stolberg, Agnes Gräfin zu, geb. von Witzleben,
* 9.10.1761 im Oldenburgischen,
+ 15.11.1788 Neuenburg bei Oldenburg.
Almanachautorin.
Von Goethe als "Engel-Grazioso" apostrophiert, heiratete die vielseitig
gebildete und musisch interessierte Hofdame an der fürstbischöflichen
Residenz in Eutin am 11.6.1782 Friedrich Leopold Graf zu Stolberg
Stolberg. Neben einzelnen Beiträgen für den von Voß redigierten "Hamburger
Musenalmanach" (Wiegenlied; An ihren Stolberg) hinterließ die wenige
Monate nach der Geburt ihres dritten Kindes verstorbene
Gelegenheitsdichterin die empfindsam geprägte Prosaerzählung Aura, die von
ihrem Ehemann unter der Verfasserangabe "Psyche" in seinen
utopisch-idyllischen Roman Die Insel aufgenommen wurde, der 1788 bei
Göschen in Leipzig erschien. S.s Literaturbegeisterung wurde von anderen
Frauen des nordelbischen Adels (u. a. Frederike Juliane Gräfin von
Reventlow, Friederike Luise Gräfin zu Stolberg Stolberg) geteilt.
Literatur: Brigitte Schubert-Riese: Das literarische Leben in Eutin im 18.
Jh. Neumünster 1975.
aus:
http://www.alt-bramstedt.de/Inhalt/schlossbesitzer/stolberg/stolberg.htm
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