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Gottlieb Stolle (Leander aus
Schlesien)
(1673-1744)
Inhaltsverzeichnis der Gedichte:
Von ihrer
unempfindligkeit
Belebter schnee der schönen brust!
Verliebter augen zweck und lust!
Es scheint, daß die natur dich so wol haßt als liebet,
Weil sie, so groß sie auch die pracht
Von deinen schönen bergen macht,
Dir dennoch einen stein an statt des herzens giebet.
(Theil 5 S. 552)
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Als er gelegenheit hatte,
sie zu küssen
Bringt mich dein süßer blick, o Flavia! ums leben,
Was würde nicht ein kuß von deinem munde thun?
Doch schweig, du tummer mund, und laß den kummer ruhn!
Sie lacht ja deiner blöden schlüsse:
Es hat dann keine noth.
Drum schweig, und setze küß' auf küsse.
Denn giebt dir einer schon den tod;
So wird der andre doch das leben
Dir also gleich mit wucher wiedergeben.
(Theil 5 S. 569)
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Amor, ein fischer
Die liebe, so allhier die flügel weggelegt,
Stellt sich, als einen fischer ein:
Die trübe bach beperlter zähren
Soll mit gewalt ihm einen fang gewähren.
Deßwegen muß ein haar, so meine Phyllis trägt,
Und ein blick, der in den seelen eine kühne lust erregt,
Der köder und das garn, ihr aber fische, seyn.
Doch, herzen! last euch nicht nach dieser kost verlangen!
Ich kenn' ihn schon, den kleinen bösewicht,
Er locket euch nur an, und kommt wahrhafftig nicht,
Um euch zu sättigen, er kommt nur euch zu fangen.
(Theil 6 S. 369)
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Als er auf dem wege zu
Flavien begriffen war
1.
Die stunden werden tage,
Weil ich, mein Licht! von dir entfernet bin:
Flieht, stunden, flieht doch bald dahin!
Daß ich nicht mehr auf das verhängniß klage.
Denn länger ohne dich, o Flavia! zu seyn,
Ist eine höllen-gleiche pein.
2.
Indessen, sanffte winde!
Die ihr vorlängst mein heises sehnen wißt,
Macht, daß mein ach die lippen küßt,
Auf denen ich allein mein labsal finde.
Du aber schicke mir, zum leit-stern meiner ruh,
Durch diese post ein küßgen zu.
3.
Doch weichet, ihr gedancken!
Den mund vergnügt kein eingebildter kuß:
Ihr mehrt zuletzt nur den verdruß,
Und führt den geist noch weiter aus den schrancken.
Denn küsse, die zu uns durch winde kommen sind,
Sind auch sonst nichts als lauter wind.
4.
Drum flieht, ihr phantasien!
Ein weiser sinn hengt keinen grillen nach:
Denn die vernunfft heißt allgemach
Der sorgen dampff vor ihrem lichte fliehen.
Sie zeigt, daß die geduld auch bey den dornen lacht,
und aus den tagen stunden macht.
(Theil 5 S. 572-573)
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Vertheidigung der biene,
so
Sylvien gestochen hatte
Du hast die arme bien' ohn alles recht erdrückt,
Ob gleich ihr zarter stich dein süßes fleisch verletzet.
Denn als sie deinen mund, den schönen mund, erblickt,
So hat sie freylich wol den stachel angesetzet;
Doch sinne nur recht nach, warum sie es gethan?
Sie sahe deinen mund vor frische rosen an.
(Theil 5 S. 527)
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Daß der satz: Die Liebe
ist blind;
nicht richtig sey
Ich stieg auf einen fels, die Liebe stieg mir nach:
Ich sprung in eine bach, so schwam sie mir entgegen.
Ich lief und floh vor ihr aus äusersten vermögen,
Sie aber folgte mir durch alles ungemach.
Ich suchte zwar nächsthin in angelegnen hecken,
Wo dicke finsterniß‘ und grause tieffen sind,
Vor ihren augen mich auf ewig zu verstecken;
Lernt‘ aber überall: Die Liebe sey nicht blind.
(Theil 5 S. 558)
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Er stellt der Amarillis
ihre grausamkeit vor.
1.
Wer kan der süßen macht der liebe widerstehn?
Es muß der strenge Mars in ihren banden gehn.
Was ist wol in der welt, das ihr nicht dienen müsse?
Lufft, erd‘ und himmel liebt. So weit die sonne sticht,
Legt ihr ein ieder mensch das herze vor die füße;
Nur Amarillis nicht.
2.
Wer läst der seuffzer schall, so ein getreuer geist,
(Der in der unschuld sich mit angst und kummer speist,)
Aus dürrem munde stöst, ihm nicht zu herzen steigen?
Des himmels starcker zorn, so durch die wolcken bricht,
Läst sich, so groß er ist, durch ach und wehmuth beugen;
Nur Amarillis nicht.
3.
Ein stein wird nach und nach vom regen ausgeschweifft:
Es wird der sternen grimm durch thränen-flut ersäufft.
Die wellen haben offt auch felsen umgeschmissen.
Ein wenig wasser löscht der flammen heißes licht:
Der mensch wird durch die krafft der thränen hingerissen;
Nur Amarillis nicht.
4.
Ach, schöne Grausame! so wilst du mehr als stein,
Und himmel, und dabey ein wilder unmensch seyn?
Laß thränen, lieb und ach doch deinen grimm vertilgen;
Damit der himmel dir nicht dieses urtheil spricht:
Es geh die ganze welt auf rosen und auf lilgen;
Nur Amarillis nicht.
(Theil 5 S. 542-543)
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Alle Gedichte aus: Benjamin Neukirchs Anthologie
Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen
auserlesener und bißher ungedruckter Gedichte Theile 1-7
Tübingen Niemeyer 1961-1991
(Neudrucke deutscher
Literaturwerke)
siehe auch
Teil 2
Biographie:
Stolle, Gottlieb, auch: Leander (von Schlesien), geb. 3.2.1673 Liegnitz,
gest. 4.3.1744 Jena. - Lyriker, Gelehrsamkeitshistoriker.
Nach den Breslauer Gymnasialjahren, in denen er bereits
Gelegenheitsgedichte und Epigramme verfaßt hatte, nahm Stolle 1693 seine
Studien der Jurisprudenz, des Naturrechts und der Politik an der
Universität Leipzig auf. Er beschäftigte sich mit den Werken Christian
Thomasius' und Pierre Poirets und übersetzte frz. Gedichte. 1695 verließ
Stolle Leipzig und war drei Jahre lang Hofmeister. In Jena erlangte er
1709 den Magistergrad und 1710 die Venia legendi. 1714 wurde er Direktor
des Gymnasiums in Hildburgshausen, 1717 Professor der Politik an der
Universität Jena. 1730 übernahm er den Vorsitz der Jenenser Deutschen
Gesellschaft, 1743 einen zusätzlichen Lehrauftrag für Ethik. Dem
Leitbild des pragmatisch ausgerichteten, weltmännischen Gelehrten
verpflichtet, sah er - wie Thomasius - seine Aufgabe darin, die
Studenten mit praxisrelevanten gelehrten Kenntnissen auszurüsten.
Die meisten Schriften Stolles sind Kompilationen aus seinen Vorlesungen.
Nachdem er - auch in seinem Sinneswandel Thomasius folgend - von seinen
spiritualistischen Neigungen abgekommen war, wandte er sich dem
frühaufklärerischen Eklektizismus zu. In vier Handbüchern, von denen
jedes den Gegenständen einer Fakultät gewidmet ist (Kurze Anleitung zur
Historie der Gelahrtheit. Halle 1718. Jena 1724, 1727, 1736. Anleitung
zur Historie der medicinischen Gelahrtheit. Jena 1731 Anleitung zur
Historie der theologischen Gelahrheit. Ebd. 1739. Anleitung zur Historie
der juristischen Gelahrtheit. Ebd. 1745), vermittelte er den
Wißbegierigen die seiner Ansicht nach für einen klugen und weisen
Menschen erforderlichen Bücherkenntnisse.
Aus: Walther Killy Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher
Sprache. Bertelsmann Lexikon Verlag Band 4 (1989)
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